Sie durfte nicht hinein. Dass man ihr verboten hatte, einen Raum zu betreten, war der Ausgangspunkt für ihr 2012 entstandenes Solo „Quartiers Libres“. Hunderte von Plastikflaschen hängt die ivorisch-französische Choreografin Nadia Beugré wie einen zur Seite gezogenen Vorhang zwischen Bühne und Tribüne. Sie gibt den Blick frei auf ihre Seele und einen Prozess.
Die große Bühne des Wiener Odeon, Schauplatz dieser Österreichischen Erstaufführung, wird mittels eines Podestes mit einem Stuhl darauf und eines dahinter installierten Laufsteges strukturiert. Das Publikum darf auch um jene Podien herum Platz nehmen. Afrikanische Musik läuft bereits, wenn sich der Saal füllt.
Unter Anderem an Germaine Acogny's Ecole des Sables im Senegal und in Ex.e.r.ce, Mathilde Monnier's Programm für aufstrebende ChoreografInnen in Montpellier ausgebildet, stellte sich Nadia Beugré im letzten Jahr erstmals dem ImPulsTanz-Publikum vor. Ihr Solo „L'Homme rare“ ermöglichte das Kennenlernen ihrer ganz besonderen Bildsprache und ihrer einzigartigen, kraftvollen Bühnen-Präsenz.
Die spielt sie auch in „Quartiers Libres“ vom ersten Augenblick an aus. In vielen Schlaufen hängt ein Mikrofon-Kabel um ihren Hals über dem golden glitzernden Minikleid. Sie geht vorn von Mensch zu Mensch, in der ersten Reihe findet sie jemanden zu Tanzen. Kurz. Sie plaudert mit ihm, singt „Malaika“, oben auf dem Podest immer lauter, bis sie schreit. Sie spreizt die Beine auf dem Stuhl, hängt ihn sich um den Hals, wirft ihn weg, stöhnt, weint, lacht, hält inne. Die eleganten Schuhe zur Seite gestellt, hält sie sich das Mikro wie einen Penis vor den Unterleib. Aus dem Rauschen erheben sich Warn-Laute, Klingeln, Hupen, Sirenen. Sie tanzt ungestüm, die Haare öffnen sich.
Sie führt durch (männliche) Sexualität, tanzt lasziv, deutet männliche Masturbation und Kopulation im Sitzen an, zeigt Übergriffe. Ohne Kleid nun verstrickt sie sich mit Hals, Armen, Beinen und Zehen in die vielen Schlaufen des Kabels. Tief gebeugt, beinahe bewegungsunfähig, bittet sie ZuschauerInnen, sie zu befreien. Sie richtet sich auf, stöhnt erlöst. Nur in ihrer schwarzen Unterwäsche tanzt sie an der Rückwand ihren Schmerz, ihr begrenztes Sein, ihre Auflehnung, ihren Ausbruchswillen mit afrikanischen Moves. Sie tanzt die verzweifelte, mutige Bewahrung der reichen afrikanischen Kultur in ihr. Sie singt afrikanisch und französisch, singt die Zerrissenheit eines Lebens zwischen kulturellen Einflüssen und Eigenheiten.
Den Vorhang herunter zu reißen müssen drei ZuschauerInnen helfen. Allenfalls ein paar Flaschen fallen klappernd zu Boden. Der Vorhang selbst hängt fest. Ein paar Flaschen fürs Publikum. Sie stopft sich einen großen grauen Abfallsack sehr langsam in den Mund, zelebriert die Ernährung mit Künstlichem, Fremdem, das übervoll Sein davon, das Würgen an dieser ihr unnatürlichen Körper- und Geistes-Nahrung.
Wie eine Kugel auf zwei Beinen sieht sie aus in einem Oberteil aus Plastikflaschen, die wie die Stacheln eines Igels ins und aufs Außen weisen. In die Stille quietschen die Flaschen. Sie braucht Hilfe, um die Stiegen aufs Podest zu finden. Ein kurzer Ausbruch wilden afrikanischen Tanzes. Während sie sich wälzt, fallen Flaschen von ihr ab, weitere reißt sie aus und gibt sie ins Publikum. Und sie zieht sich den Plastik-Sack ganz langsam aus dem Mund. „Okay!“
In „Quartiers Libres“ beschreibt Nadia Beugré Prozesse der Bewusstwerdung und Selbstermächtigung. Den Schmerz erfahrener Misshandlungen, Diskriminierungen, Grausamkeiten und Gewalt, die sich eingeschrieben haben in ihren Körper, vor allem aber in ihre Seele, hat sie verdrängt. Die das Selbst sabotierenden Überzeugungen auch. Übrig blieb eine rudimentäre, eine künstliche, eine Plastik-Identität. Und die aus dem Dunkel drängenden Rufe des Körpers und der Seele. Fremd, beunruhigend, ängstigend.
Aus dem körperlichen und psychischen Unbehagen in einer Umwelt, die ihre Erinnerungen und ihre innere Weisheit nicht wertschätzt, nicht haben will in dem Glauben, sie nicht zu brauchen, und die sie folgerichtig, aber folgenschwer verdrängt, wächst die Erkenntnis dessen. Die Entscheidung, sich dem zu stellen, ist eine Entscheidung gegen ihren bisherigen Umgang mit destruktiven äußeren Einflüssen, gegen die devote Verinnerlichung jener sie mit Gewalt bedrängenden normierenden Umwelt und für ein selbstbewusstes, wertschätzendes, freies (Aus-) Leben der eigenen, vollständigen Persönlichkeit.
Sie nutzt ihre negativen Gefühle, hervorgerufen durch die Anpassung an Umgebungsbedingungen in Form von Abschwächen respektive Unterdrücken bestimmter, mit der Umwelt kollidierender Persönlichkeitsanteile, konstruktiv. Sie überwindet die übliche Delegation der Schuldfrage nach außen und übernimmt Verantwortung für sich selbst. Sie wächst damit aus der Opferrolle in eine des Schöpfers ihrer selbst. Sie erkennt ihre Umwelt als eine (auch für sie) unnatürliche, künstliche und somit entfremdende und beginnt einen harten Kampf für sich selbst.
„Im Kampf mit einer Welt, die sie begraben will.“ Schreibt das Programmheft. Und: „Aufgeben ist keine Option.“ Alarm-Töne und Signale vieler Art (von Mathieu Grenier) und afrikanische und französische Lieder begleiten Nadia Beugré's Tanz-Performance, die zwischen Besinnung und nur für Momente entfesselten Urgewalten, einer unbändigen Kraft, die zuweilen eruptiv durch mühsam geglättete Oberflächen bricht, pulsiert. Ihr immer wieder gesuchter Kontakt zum Publikum macht ihr Thema zu unserem, individuell und gesellschaftlich.
Beugré beschreibt Selbsterkenntnis und Selbstbehauptung nicht als Widerstand gegen ein Außen, sondern als Prozess der Integration aller, auch und insbesondere der verdrängten Persönlichkeitsanteile in ihr Selbst und, ganz nebenbei und in Einheit damit, als Prozess der Integration in die (Um-) Welt. Am Ende speit sie mit dem Plastik-Sack die Dinge, die sie aufnahm in Körper, Geist und Seele und mit ihnen die aufgezwungene, zugelegte, verinnerlichte, falsche Identität ganz langsam aus. Emanzipation.
Nadia Beugré mit „Quartiers Libres“ am 04.08.2023 im Wiener Odeon im Rahmen von ImPulsTanz.