Eine Lücke füllen – das wollte Stuttgarts Ballettintendant Tamas Detrich. Seit mehr als einem halben Jahrhundert gab es in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs keinen „Nussknacker“, einen der Ballettklassiker schlechthin. John Cranko hatte 1966 den letzten mit dem Stuttgarter Ballett auf die Bühne gebracht. Doch gespielt wurde das Stück kaum und auch nicht in Benesh-Notation aufgezeichnet – wie vieles andere von Cranko, das zu kennen wir uns glücklich schätzen dürfen.
Dafür mag es seinerzeit gute Gründe gegeben haben, macht aber die besondere Herausforderung deutlich, die nun auf den Schultern des von Detrich beauftragten Choreografen Edward Clug ruhte – und auf denen von Szenografie-Altmeister Jürgen Rose, der unglaublicher Weise schon für die Ausstattungen von Crankos „Romeo und Julia“ (1962) und „Onegin“ (1965) verantwortlich gezeichnet hatte.
Der choreografische Modernist Edward Clug (Jahrgang 1973) – in seinen abstrakten Arbeiten eine Art Mondrian der Tanzwelt – und „der Sanquirico unserer Zeit“ Jürgen Rose (Jahrgang 1937), diese beiden außergewöhnlichen und nicht nur vom Alter her durchaus unterschiedlichen Künstler wären sich jenseits ihrer engen Verbundenheit mit der Stuttgarter Kompanie sonst wohl niemals kreativ begegnet. Roses zuvor „letzter Streich“ für Stuttgart war vor dreieinhalb Jahren die fabelhaft frische Neugestaltung der Kostüme und Kulissen zu Kenneth MacMillans „Mayerling“. Eine visuelle Aufwertung par excellence, für die es einen bis ins fortgeschrittene Alter stets visionären Ausstattungszauberer à la Rose braucht.
Den historisch einmal mehr bestens recherchierten Zugang hinsichtlich Biedermeier-Look und Requisiten der Romantik sowie Opulenz an Materialien und in die Choreografie integriertem Detailreichtum verfolgte Rose auch beim „Nussknacker“-Projekt. Noch nie war es so schön, einem Ensemble beim Christbaumschmücken und Tischdecken zuzuschauen. Das quirlig-dienstfertige Personal der Familie Stahlbaum absolviert im Zuge der Vorbereitungen eine Menge temporeicher Auf- und Abtritte. Die Herrschaften gehen das Fest etwas langsamer an und überlassen das Klettern zur Tannenspitze ihrem vor Energie nur so sprühenden Nachwuchs.
Eine Schar von insgesamt 16 Schülerinnen und Schülern der John Cranko Schule unterstützt Elisa Badenes (eine fabelhafte Clara) und Matteo Miccini (Fritz – technisch ein Freek) herzig und reizend dabei, sich in solch’ kindliche Vorfreude hineinzusteigern. Zudem wartet Rose mit bühnentechnisch an sich simplen Überraschungen auf: So gewinnt das weiße, erst platt am Boden mit allen Tellern darauf ausgebreitete Leintuch ganz plötzlich die angemessene Sitzhöhe und mutiert durch die ringsum aufgestellten Stühle zur Festtafel. Auch danach wird das Hubpodium immer wieder neu in der Choreografie eingesetzt. Später üben schon mal Käferkinder das zierliche Trippeln in einer Reihe – oberlehrerhaft angeleitet von Claras Großvater (launiger Wonneproppen: Matteo Crockard-Villa).
Was Rose und Clug dramaturgisch wirklich rund – und damit vergleichbar zu John Neumeiers Fassung – gelingt, ist, dass das Personenarsenal des engsten Familienkreises sowohl im ersten als auch im zweiten surreal verfremdeten Akt szenische Akzente setzen darf. Und die kommen, weil oft so überzogen und dabei menschlich, bei allen Altersstufen im Publikum hervorragend an. Von den vielen in die Handlung eingebundenen Spielzeugen könnte man glatt annehmen, sie seien – mit Ausnahme der Rollerblades in der Weihnachtsmarkt-Eröffnungsszene – Leihgaben diverser Volkskundemuseen. Derartige Anmutungen hat Rose auch in die Outfits der Tänzer einfließen lassen – mal knautschig (Drache) und sehr witzig (Kamele), mal hartschalig (Käfer), mal flatterhaft-kitschig (Schmetterlinge), mal ganz traditionell (Toreros), mal volkstümlich-abstrahiert (Matroschkas, Kosaken) und insgesamt sehr hell (Harlekine) und farbsinnlich schillernd.
Vor allem verzaubert der titelgebende, hölzern-steife Nussknacker, der von Edward Clug im ersten Akt als Wendefigur mit zwei Gesichtern eingeführt wird. Vorne blickt uns der Interpret Friedemann Vogel im weißen Prinzengewand an, dreht er sich aber um, sehen wir eine kantige Maskenvisage in soldatisch-blauer Uniform. Für Vogel – dem technisch überwältigenden, stilübergreifend versierten Ersten Solisten – ist die Rückverwandlung dank Claras Zuneigung von der zackigen, Nüsse knackenden Holzfigur zum vom Fluch des Mäusekönigs befreiten und auf ziemlich klassische Art prinzengleich smarten Neffen Drosselmeiers eine weitere Paraderolle. Vogels große Kunst besteht darin, Leben in das zurückgenommene, stark schematisierte Profil dieser Partie zu bringen, der Clug ein allzu realistisches Finale gemeinsam mit Clara verwehrt. Bei Clug und Rose wird das verliebte Paar am Schluss von Drosselmeier einfach auf einer Bank in einer buchartig aufgeklappten, gigantischen Walnuss geparkt.
In seinem neunten Lebensjahrzehnt ließ sich Jürgen Rose auf Edward Clugs zeitgenössisch-abstrakte Konzept-Idee ein, den Aufhänger der gesamten Geschichte in einer bzw. in mehreren Walnüssen zu suchen. Als aktübergreifendes Element wurden diese zum genialen visuellen Scharnier zwischen einer Choreografie, die Kulissen und Kostüme zum Tanzen bringt, und einer Ausstattung, die jeden Handgriff und jede Bewegung zum schlüssigen Baustein eines durch und durch märchenhaften Abendfüllers werden lässt. Das eine funktioniert nur aufgrund und in unmittelbarer Verbindung zum anderen. Schon allein deshalb ist das neue Ballett, das Stuttgart nun sein eigen nennt, ein absoluter Traum.
In dieser inhaltlich clever umgearbeiteten, auf die Original-Vorlage von E.T.A. Hoffmann zurückgehenden „Nussknacker“-Neufassung wird sich auf einem von Anfang an nie wirklich realistisch gedachten Terrain im Clash der Generationen auf das Herrlichste ausgetobt. Nicht zuletzt bringt Claras Patenonkel Drosselmeier gleich bei seinem ersten, die weihnachtliche Festtafel Stahlbaums für einen Moment aufschreckenden Erscheinen seine Affinität für geistige Schwebezustände zum Ausdruck. Und er tut das dann noch einmal ganz am Ende, wenn er sich – das Glas erhoben – rücklings unter den sich herabsenkenden Hauptvorhang hechtet. Vielleicht war das, was die Hauptfigur Clara uns Zuschauern durch ihre Vorstellungskraft miterleben lässt, bloß Drosselmeiers insgeheimer Rauschtraum? Jason Reilly verkörpert dessen Charakter perfekt in der Ambivalenz zwischen wachsamem Beobachter und erzähllustigem Drahtzieher. Ab und an legt er sich allerdings allzu gern in Claras Bett aufs Ohr.
Auf das Reich der Zuckerfee im zweiten Akt mit heutzutage in ihrer einstigen Klischeehaftigkeit problematischen Nummern wie „chinesischer Tee“ oder „arabischer Kaffee“ wurde gänzlich verzichtet. Stattdessen hauchen Clug und Rose den Spielzeugen der Stahlbaum-Geschwister Fritz und Clara in der auf einen leutseligen Heilig Abend folgenden Nacht Leben ein. Gemeinsam gilt es, den schrecklichen Mäusekönig zu besiegen, dessen kleine (Schüler der John Cranko Schule) und große (sechs Ensembletänzer) Vorhut Clara nachts Angst einjagt.
Irgendwo mittendrin befindet sich immer auch Drosselmeier, dessen schaurige Erzählung über seinen verfluchten Neffen inklusive des Seelenraubs als Schattentheater zum Fantasieauslöser wird, nachdem er Clara mit dem eigentlich unattraktiven, aber dennoch liebenswerten Nussknacker beschenkt. Die kartonfarbigen Wände öffnen sich. Hat Rose womöglich an ein Spiel mit alten Erinnerungen, verpackt in einer Kiste gedacht? Clara, ihr Nussknacker und Drosselmeier folgen zwei Hirschen mit Krücken als Vorderläufen hinaus in eine von grazilen Feen bevölkerte Waldlichtung. Ihr dekoratives Dahinschweben und Sich-Formieren zu Tschaikowskys berühmtem Schneeflockenwalzer leitet mit feinem Kinderchorgesang live aus der Seitenloge nach dem vorausgegangenen szenischen Tumult geradezu meditativ-besinnlich auf die Pause hin. Nach dieser ist die große, das vorige Bild optisch dominierende, von der Decke hängende Walnuss zerschlagen. Insekten tummeln sich im Trümmerfeld. Clara und ihr Patenonkel machen sich auf, um den verschwundenen Nussknacker zu suchen.
Mit einer schier überbordenden Fantasie und klugen Einfällen umschifft das Produktionsteam die dramaturgischen Schwächen des Urlibrettos von Marius Petipa ebenso wie alle aktuell offenbar kritisch unter die Lupe genommenen exotisch-verfänglichen Passagen. Ja mehr noch: Es wurden wunderbare, alternative Lösungen gefunden, die bestens mit der musikalischen Bildsprache in Tschaikowskys Partitur harmonieren. Darunter sind zwei famose Kamele, deren vier Beine auf halber Spitze jeweils zwei Tänzerinnen bzw. zwei Tänzern gehören. Sie lassen ihre langen Hälse im Duett schwofen. Nur beim Hüftkreisen, das Clara ihnen abringen will, winken die zwei eigenwilligen Tiere ab. Dass sie in den Spagat absinken, bleibt höchst absurd und kommt dennoch tierisch echt rüber. Den Tänzern bei dieser Spinnerei zuzusehen, ist pure Wonne.
Im letzten Bild des Abendfüllers angekommen, hat sich jegliches Zeitgefühl verflüchtigt. Dienstmädchen flitzen ein erstes Mal mit einem Paravent vorbei. Beim zweiten Mal trägt Clara nicht mehr ihr rotes, sondern ein weißes Kleid. Sechs Harlekine und zwei, bald drei Leitern wirbeln umher. Rose, der Kostümbildner und Clug, der Schrittmacher lassen Schmetterlinge und – im wahrsten Sinne des Wortes – die Puppen tanzen. Alles kulminiert im großen Pas de deux, bei dem sich der aus seiner Nussknacker-Steifheit errettete Neffe Drosselmeiers und Clara als Paar wiederfinden: Liebe in ihrer naiv-kindlichen Reinheit, der Clug den unglaubwürdigen Hochzeitskitsch nimmt. Kurz lässt er Clara ihrem Anfangsalter gemäß noch einmal quer durch ihre Spielzeuggesellen rennen, die die Bühne füllen. Danach bejubelte das Publikum mit vollem Recht alle mitwirkenden Tänzer und Musiker sowie Clug und Rose 15 Minuten lang.
Stuttgarter Ballett: "Der Nussknacker", Ch: Edward Clug, Premiere am 25. November 2022 im Opernhaus Stuttgart. Nächste Vorstellunge am 3., 7., 8., 9., 10., 13., 14., 15., 16., 18. Dezember