Zwischen (Alp)Traum, Ekstase und Rausch. Eigentlich ist alles in einer psychologischen Zwischenwelt angesiedelt. Ein Kunstgriff, mit dem es Karl Alfred Schreiner seinen vier Hauptfiguren, dem Publikum und sich selbst als Choreograf gar nicht so einfach macht. Dabei beginnt seine „Giselle“ sehr unmittelbar.
Man taucht sofort in die Kernfrage des Sich-Vertrauens ein. Eine besorgt-warnende Mutter oder Freundinnen für wechselnde Stimmungslagen braucht die Interpretin der Titelpartie hier nicht. Denn seelisch-emotionale Instabilität – nah am Wahnsinn gebaut – lässt sich darstellerisch ziemlich gut allein austragen.
Völlig unerheblich für Schreiners mit zeitgenössischem Drive neu aufgerollte Geschichte ist – das wird sehr schnell deutlich –, wer woher aus welchem sozialen Umfeld kommt. Insbesondere Kenner klassischer „Giselle“-Versionen mag verwirren, dass in der Partitur von Adolphe Adam bestimmten Personen zugeordnete Musiknummern wiederholt mit solistischen Einlassungen oder Duetten anderer Figuren belegt wurden. Gerade weil die Komposition selbst so stark motivisch erzählt, muss man sie plötzlich anders rezipieren, wenn drei wie mythische Fabelwesen gehörnte Widder-Männer ein Quartett mit Myrtha, der Anführerin der Willis, dort zum Besten geben, wo sich sonst im 2. Akt Giselle und Albrecht wiederbegegnen.
Zum Umdenken wird man auch durch die von Luca Seixas sehr schön burschikos dargebotene Frohnatur des Hilarion gezwungen, der sich schon mal solistische Passagen aneignet. Fast anzüglich drängt es ihn anfangs zwischen Albrecht und Giselle. Doch so sehr er auch seine Arme und Füße um die Angebetete wickelt, landen kann er bei ihr nicht. Ist er womöglich alkoholisiert? Das könnte Hilarions wie tot zu Boden gehen in Folge seiner Begegnung mit der wilden Horde erklären – hier den mit samtenen Abendroben in freizügiger Monte-Verità-Verspieltheit tanzenden Willis. Am Ende verlässt er den Platz Hand in Hand mit einem anderen Mädchen, nachdem die Tänzerinnen und Tänzer, die sich am Rachefeldzug beteiligt haben, unter einer Stoffhülle von der Bühne verabschieden. Darf man diese in ihrem welligen Profil für Bierschaum halten?
Gleich dem Originallibretto des 1841 in Paris uraufgeführten Balletts spielt auch Schreiners Gärtnerplatz-Fassung irgendwo auf dem Land. Mit in die Choreografie und in die Szenerie mischt sich Bacchantisch-Tierisches und eine Männerrauferei. Der Kerl, den Giselle nicht ausstehen kann, beschenkt sie mit einem erlegten Widder. Und Isabella Priondi (in ihrer Doppelrolle auch Myrtha) ringt als Bathilde einen anderen Typen unnachgiebig amazonenhaft nieder. Später stellt sich Giselle Bathilde auf einem riesigen Heuschoberthron mit Klammerarm um den Hals ihres Albrechts vor. Zentrales Motiv dieser Geschichte ist Giselles Außer-Sich-Sein.
Handlung im traditionellen Sinn sieht anders aus. Worum sich die Gärtnerplatztruppe stattdessen bemüht, fordert das Publikum gerade durch diese zerrspiegelhafte Art und Weise heraus. Die Menschen, die sich – im Zuge eines Fests oder einer Jagd – in einer Tenne treffen, tragen allesamt Trendiges mit einer eleganten Note von Trachtenschick. Es glitzert an Hüten und Joppen. Im 1. Akt trägt das Ensemble braunsamtene Kniebundoveralls, und das Rockkleid der Giselle verleiht jeder Bewegung etwas schärfere Konturen. Letzteres hat zudem den Schnitt eines leger-pfiffigen Modebestsellers.
Johnny Talbot und Adrian Runhof haben den Protagonisten Looks ihres Fashionateliers in der Münchner Klenzestraße gleich neben dem Theater verpasst, die jeglicher athletischen Geschmeidigkeit schmeicheln. Alle 17 Tänzerinnen und Tänzer agieren in Socken. Nur Alexander Hille schreitet einmal unter seiner langen schwarzen Schleppe und weißen Lilien im Arm barfuß auf die Rampe zu. Giselle ist ihm da in ihrem Wahn längst entglitten.
Die Produktion, die der Choreograf in einem Pas de deux gegenseitiger Vergebung gipfeln lässt, beginnt mit einem Rascheln. Das hört sich in etwa so an, als wenn Wind leicht böig durch trockenes Herbstlaub fährt. Statt gleich volle Pulle mit der klangsatten Ballettpartitur von Adolphe Adam loszulegen, werden einzelne Töne weniger Instrumente von Orchestermusikern des Staatstheaters am Gärtnerplatz stark gedehnt, und Geigensaiten sirren hoch im Flageolett wie ein Faden kurz vor dem Zerreißen. Dazwischen setzen sich, schnell wieder auseinandergerissen, einige der bekannten Melodiephrasen durch. 15 Minuten dauert dieser akustische Prolog, den der musikalische Leiter des Abends, Michael Nündel, als akustisches Mittel zum Zweck so arrangiert hat.
Die musikalische Verfremdung erlaubt Schreiner, das Publikum langsam an seine Protagonisten heranzuführen, die sich nach und nach in einer grauschwarz abgebeizten Scheune einfinden. Bühnenbildner Heiko Pfützner hat den anfangs intim begrenzten Raum so konzipiert, dass er sich in die Breite und nach hinten hin perspektivisch vergrößern und weiten kann – vergleichbar Giselles Blick auf die Welt und die sie umgebenden Mitmenschen.
Amelie Lambrichts verkörpert die Rolle einer von Misstrauen zerfressenen Giselle. Mit rudernden Armen, furiosen Drehungen und stummen Schreien gelingt es ihr glaubhaft, sich in den Schmerz der Figur hineinzusteigern. Innere Stimmen und Hirngespinste machen diesem Mädchen das Leben und Lieben richtig schwer. Das kapiert man! Weil sie auf ihren Freund Albrecht unerwartet lange warten muss, gerät alles aus dem Lot. Das kapiert man ebenso gut! Aber nur in wenigen Szenen von Albrecht und Giselle schimmert deren mögliches, auch real greifbares Glück durch. Neben einer generell besseren Verständlichkeit des Plots wären mehr solcher poetischen Momente für das Paar wünschenswert gewesen.
Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz: „Giselle“, Premiere am 17. November 2022. Nächste Vorstellungen am 7., 13., 21., 26., 28. Dezember und 4. Jänner 2022