“Der große Wurf” wird bei einer Neuinterpretation klassischer Werke erwartet. Zu Recht, haben sich die Meisterwerke aus dem 19. Jahrhundert doch aufgrund ihrer nahezu perfekten Choreografien zu den großen musikalischen Werken der Ballettliteratur bis heute als Fixpunkt auf den Spielplänen gehalten. Selten gelingt eine neue Version ebenso überzeugend wie das Original, das im kollektiven Gedächtnis eingegraben ist. Und so ist es auch mit Martin Schläpfers „Dornröschen“.
Dabei bringt der Choreograf anfangs durchaus interessante Ideen ein, sowohl inhaltlich als auch tänzerisch. Er räumt den Eltern (Olga Esina und Masayu Kimoto) von Aurora (Hyo-Jung Kang) eine tragende Rolle ein. So eröffnet eine Liebesszene während der Ouvertüre das Ballett, die Nacht von Auroras Zeugung. Danach geht das Märchen seinen gewohnten Gang: Aurora wird von den zwölf Feen des Landes mit großzügigen Geburtsgeschenken ausgestattet, der Haushofmeister Catalabutte (Jackson Carroll) hat vergessen, die 13. Fee einzuladen, Carabosse (Claudine Schoch) fährt wütend in die Feier ein, spricht ihren Todesfluch gegen die Prinzessin aus, der von der Fliederfee (Ioanna Avraam) in einen 100-jährigen Schlaf abgemildert wird. 16 Jahre später wird der Fluch bei Auroras Geburtstagsfeier wahr.
In diesem Prolog und im 1. Akt gelingt es Schläpfer Teile der klassischen Choreorgrafie von Petipa mit seinem eigenen Idiom zu verbinden. Es scheint, als lenke die klassische Struktur seinen eigenen eklektischen Zugang in geordnete Bahnen. Neckische Sprünge, schnelle Wendungen fügen sich in die Variationen der Danse d’Ecole ein und vermitteln eine verschmitzte Leichtigkeit. Fünf Elev*innen der Ballettakademie sind als Feenkinder tänzerisch anspruchsvoll integriert. Die Pagin (Adi Hanan) und die Pagen (Javier González Cabrera und Gaspare Li Mandri) tollen ausgelasssen über die Bühne. Unangetastet bleibt das Rosenadagio.
Florian Etti gestaltete ein wirkungsvolles Bühnenbild aus Projektionen, das sich unter der Lichtregie von Thomas Diek vielfältig wandelte.
Der zweite Akt beginnt mit einem musikalischen Einschub: Zur Giacinto Scelsis Violinkonzert erscheinen im hundertjährigen Gestrüpp, das mittlerweile Auroras Schlafstatt von der Außenwelt trennt, die Waldfrau (Yuko Kato) und der Faun (Daniel Vozcayo). Eine mystische Welt –freilich gleich in Referenz zu Nijinskys „Faun“ –, in der Prinz Désiré (Brendan Saye) der Fliederfee begegnet und Aurora hinter der Gewächswand entdeckt. Doch außer dieser einzigen radikalen Erneuerung bleibt dieses Dornröschen insgesamt sehr traditionell und die neuen Ideen werden nicht überzeugend verfolgt.
Außerdem verliert sich der nachvollziehbare Faden, etwa wenn der Aufwachkuss zu einem flüchtigen Busserl verkommt, Carabosse auftaucht und vom Prinzen deutlich mehr Aufmerksamkeit erhält als seine künftige Braut. Von da an stopft Schläpfer alles in dieses Ballett, was seiner Meinung noch fehlt und verliert dadurch die Entwicklung der bisherigen Handlungsstränge.
Der letzte Akt ist, wie auch im Original, eine Abfolge von Variationen. Die Kleidung hat sich dem Stil des 20. Jahrhunderts angepasst, die Röcke sind kürzer, elegante Kostüme ersetzen nun die historischen Roben (Kostüme: Caterhine Voeffray). Wir sehen Einschübe aus Balanchine „Jewels“, das Katzenduo, wobei die Katzen (Eszter Ledán und Marian Furnica) lediglich musikalisch, aber nicht tänzerisch als solche erkennbar sind oder die Variation des Blauen Vogel nach Petipas Originalchoreografie (brav, aber uninspiriert getanzt von Davide Dato und Kiyoka Hashimoto). Es ist ein buntes Treiben, das zwischen Bravourstückerln und ernsten bis serenen Ensembleszenen mit der für Schläpfer typischen, zurückhaltenden Gestik des Tanztheaters, oszilliert. Und dann ist da auch noch die Handlung, die weitergeschrieben wird: Carabosse wird wieder rehabilitiert, eines der Highlights des letzten Aktes ist die eindringlichen Konfrontation mit der Fliederfee, in der sie umeinander kreisen. Am Ende werden sie sogar zusammen Walzer tanzen.
Nach dem Grand Pas de deux heiraten Aurora und Désiré und werden von den Eltern als Nachfolger gekrönt. Danach wird wie zuvor abwechslungsreich weitergetanzt. Vor der Apotheose erscheint die Königin. In einer zaudernden Haltung nimmt sie Abschied von der Macht und vom Leben, dies wird zur einzigen psychologisch deutbaren Szene, denn die Charaktere bleiben ansonsten wie auch im Märchen flach und ungreifbar. Ob der Choreograf dies intendierte, wird nicht klar. Am Ende ziehen sich die Feen, Waldfrauen und Faune wieder in die Geisterwelt zurück, die Königin und der König legen sich in Erwartung des Todes auf den Boden. Für all das hätte man einfach mehr Raum und Zeit lassen und vielleicht auf die eine oder andere Variation verzichten müssen. Die Beiläufigkeit mit der diese inhaltlichen Veränderungen abgespult werden, stellt wiederum die Neuinterpretation generell in Frage. Wie auch schon in anderen Balletten, kann oder will Schläpfer den großen Bogen nicht spannen.
Gleichzeitig ist es auch verständlich, dass er von der großartigen Musik Tschaikowskis nichts liegen lassen wollte … Auch Patrick Lange, Dirigent des Abends, schwelgte mit dem Staatsopernorchester, mitunter ziemlich lautstark, in diesem musikalischen Schatzkasten.
Die Solist*innen konnten in diesem dreieinhalbstündigen Ballett durchwegs überzeugen: Souverän meistert Hyo-Jung Kang dieses Virtuosenstück der klassischen Ballettliteratur, Brendan Saye ist ein untadeliger Danseur noble und sicherer Partner. Olga Esina ist auch nach ihrer Rückkehr aus der Babypause die eleganteste Ballerina der Compagnie, ebenso apart Masayu Kimoto (trotz seiner eigenartigen Kostüme, die aus der generell geschmackvollen Ausstattung seltsam hervorstachen). Ioanna Avraam und Claudine Schoch waren als gegensätzliche Feen bestens besetzt.
Fazit: „Dornröschen“ in der Choreografie von Martin Schläpfer ist eine in Ausstattung und Inszenierung durchaus opulente und beeindruckende Produktion. Die Veränderungen des Originals bzw. die ambitionierte Neudeutung ist allerdings lediglich in Ansätzen gelungen. Begeisterter Applaus für die Tänzer*innen und Musiker*innen, beim Auftritt des Choreografen mischte sich auch der eine oder andere Buh-Ruf unter.
Wiener Staatsballett: „Dornröschen“, Premiere am 24. Oktober 2022 in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 26. Oktober, 1., 4., 7., 12., 20. November, 21., 23., 25., 29. Dezember