Tschechow ist ein Dauergast auf deutschsprachigen Bühnen, gilt er doch immer noch als gnadenloser Analyst bürgerlicher Stimmungslagen. Auch die SpezialistInnen für klassische Dramenliteratur vom TAG Theater an der Gumpendorferstraße haben Erfahrung mit ihm. Diesmal gelang ihnen mit „Onkel Wanja“ in der Fassung von Regisseur Arturas Valudskis wieder einmal Theater im besten komödiantischen Sinn, intelligent und unterhaltsam.
Vor nicht allzu langer Zeit noch hätte man Tschechows Befund der menschlichen Unfähigkeit zur Veränderung ohne dringliche Not als gegenwärtig empfunden. Doch heute überschlagen sich die Ereignisse, und die lähmende gesellschaftlich bedingte Trägheit, dramaturgisches Movens des Stückes, erscheint fast passé nach der Pandemie und im Krieg auf europäischem Boden. Dennoch greift Tschechow hier eine zeitlose, genuin menschliche Unfähigkeit auf.
Auf einem Landgut in der Provinz machen sich die ProtagonistInnen allesamt selbst das Leben schwer, sei es durch illusionäre Verklärung einer Person, wie dies dem Titelhelden Wanja widerfährt. Er schuftet als Verwalter des nach dem Tod seiner Schwester der Nichte vererbten Hofes, weil er dem bewunderten Schwager aus den Einkünften des Gutes ein feines Leben ermöglichen will. Dieser, ein pensionierter Kunstprofessor, hat längst wieder eine junge, mondäne Frau geheiratet, die gleich drei Herren betört: Den älteren Ehemann, Wanja und den als Arzt oft am Hof verweilenden Freund, der wiederum von Wanjas Nichte unerwidert geliebt wird. Trotz so mancher Erkenntnis lähmen Trägheit, Alkohol und mangelnder Wille zur Veränderung das Leben aller, und sogar nach dem Showdown, einem erfolglosen Mordversuch Wanjas und dem nicht stattfindenden Verkauf des Hofes, kehren alle zurück in ihre vertraute Passivität.
Valudskis Textfassung des 1899 am Moskauer Künstlertheater in der Regie von Konstantin Stanislawski uraufgeführten Stücks bleibt nahe an der originalen Vorlage, etwas gekürzt. Er inszeniert als „Black Theatre“, ohne Ausstattungszauber und mit wenigen Requisiten. Die fünf SpielerInnen tragen Kleidung, die ihnen auch kurze Rollenwechsel ermöglichen. Etwa übernimmt Michaela Kaspar als Elena auch den kurzen Part der Maria, indem sie sich einen langen Rock überstreift und Brillen verwendet. Hauptrequisiten sind ein großer Tisch, verschiedene Glasfläschchen und ein mit einem Henkel versehener Pflasterstein, und alle diese Objekte fungieren als Bedeutungsträger. Der schwere Stein etwa könnte für die große Last der Initiative stehen, die alle SpielerInnen unterschiedlich angehen.
Gespielt wird mit vollem Körpereinsatz, und dabei kommen köstliche Szenen heraus. Wie Michaela Kaspar als Elena einmal zur Alkoholsuche von einem Sessel zum anderen klettert und sich dabei über den dazwischen senkrecht aufgestellten Tisch turnt, ist grandios komisch. Überhaupt werden hier Verfahren grotesker Ästhetik im Sinn der Commedia dell’arte angewandt, die besonders geeignet sind, die essentielle Tragikomik menschlicher Existenz zu charakterisieren. Wer gerade nicht aktiv im Spiel ist, sitzt auf einem Sessel mit dem Rücken zum Publikum, außerhalb des Lichtkegels.
Schauspielerisch insgesamt sehr gut dargeboten, außer gelegentlichem Sprech-Overacting von Claßen, der grundsätzlich erfahren und spielsicher ist. Manchmal wäre aber ein bisschen weniger mehr, bekanntlich. Andreas Gaida fehlen ein wenig die Nuancen, dafür traf Ida Golda den Grundton der Inszenierung hervorragend. Nicht unbemerkt blieb die Reverenz an die belagerte Ukraine, wenn Valudskis sein Professorenehepaar am Ende nach Charkiv reisen lässt und nicht nach Charkow.
„Onkel Wanja“ im TAG, Premiere am 1. Oktober 2021. Weitere Vorstellungen am 12., 13., 15. Oktober, 8., 9. November, 5., 7. Dezember