Ein Theaterspektakel vom Feinsten bot die Needcompany des belgischen Tausendsassas Jan Lauwers mit ihrer Performance „All the good“. In das abgelegene Haus einer Künstlerfamilie dringen mit der Liebe zwischen der Tochter und einem ehemaligen israelischen Soldaten auch Krieg und Tod. Zwei Stunden Theater, Musik, bildende Kunst, Tanz und Text, voller Dynamik, Poesie und Tiefgang. Und voller Menschlichkeit.
Das Haus, eine alte Bäckerei, bewohnen die mit ihren Klarnamen performenden Eltern Jan Lauwers, der sich als Erzähler am Rande hält und durch ein Alter Ego, großartig: Benoît Gob, vertreten lässt, seine Frau Grace Ellen Barkey, deren (derzeit schwangere) Tochter Romy Louise Lauwers und Sohn Victor Lauwers, Inge Van Bruystegem, Elik Niv, Jules Beckman (Komposition, Gitarre), der Cellist Simon Lenski, Maarten Seghers und der Geiger George van Dam. „All the good“ ist das Selbstporträt einer Künstlerfamilie, die in ihrem (Bühnen-) Haus vor den Wirklichkeiten der Welt nicht geschützt ist.
Sie erzählen viele Geschichten (auf englisch, französisch, hebräisch, deutsch). Wie Grace, die einmal einem Polizisten einen Stein an den Kopf warf und merkte, dass sie Gewalt nicht mag, und wie die vom Glasbläser Mahmud aus Hebron, der 800 total nutzlose Vasen gefertigt hat und nicht kommen kann, weil er seine Heimat nicht verlassen darf. Sie reden über die Rolle des Schmerzes bei Marina Abramović, die, wenn sie ein Kind geboren hätte, vielleicht anders darüber denken würde. Victor verkündet: „Wir spielen die Wahrheit ohne jedes Problem.“
Was diese Wahrheit ist und wie sie sich ihr nähern, ist dem Text, der Regie und dem Bühnenbild des großartigen Jan Lauwers zuzuschreiben. Sie diskutieren, singen, tanzen, musizieren, streiten und lieben sich. Sie schauen die Dinge, bleiben aber nie beim Offensichtlichen. Das Stück ist voller Metaphern im Text, in den (auch Bühnen-) Bildern, den Ereignissen und Geschichten, den Analysen und Gedanken. Allein die Geschichte des israelischen Elitesoldaten Elik Liv, der nach Unfall und Rehabilitation Tänzer wurde (und den Lauwers 2014 kennenlernte) taugt zum Bild einer Läuterung. Und dafür, dass sie möglich ist.
Dieses Stück wagt es, Kritik zu üben an Israel und seiner Palästina-Politik. Das, was die anhaltende Scham über die durch den Holocaust im zweiten Weltkrieg auf sich geladene Schuld bei den Tätern und deren Nationen (allen voran, jedoch nicht allein die Deutschen) noch heute verunmöglicht, nämlich eine möglichst objektive Haltung zum israelisch-palästinensischen Konflikt einzunehmen, wird jenseits aller Kategorien wie nationale Verantwortung und Wiedergutmachung auf eine individuell-soziale Ebene verlagert.
Der Glasbläser Mahmud lebt und arbeitet in Hebron im Westjordanland. Sachlich, mit Fotos seiner Werkstatt und Berichten vom Zustandekommen der Zusammenarbeit und der Unmöglichkeit seiner direkten Teilnahme an der Erarbeitung und Aufführung von „All the good“ aus politischen Gründen vorgestellt, wird dieser nur durch seine Glas-Objekte Repräsentierte zu einem der sichtbarsten, immer anwesenden der Akteure auf der Bühne. „Jede dieser 800 Vasen ist eine Träne.“
Auch begehrt wird gehörig. Die Mutter hatte eine Affäre, die Tochter treibt's mit dem Juden und spielt mit dessen beschnittenem Penis. Die Kamera (und wir per Groß-TV) sind live dabei. Und da ist die Liebesgeschichte zwischen Tochter Romy und dem ehemaligen israelischen Soldaten Elik, der für die Hisbollah kämpfte und tötete. „Wir sind davon überzeugt, dass sich die Kunst in die Welt einmischen sollte. Aber wenn sich die Welt in die Kunst einmischt?“ Die Kamera fährt über apokalyptische Bilder von Goya. „Guernica“ wird diskutiert und bleibt lange auf dem Monitor. „All the good“ ist auch eine Geschichte vom Krieg, der wie ein übler Geruch die ganze Performance begleitet.
Lauwers greift die drängende Frage nach der Freiheit der Kunst auf. Wie passend: Dem ganz aktuellen Eklat um die Documenta 15, der allgemein zunehmenden Zensur von „U-“ und „E-“ Kunst aus Anti-Ismen heraus stellt er seine Arbeit zur Seite, in der er (leider ja: mutig) unpopuläre, politisch unkorrekte Auffassungen zu Wort kommen lässt, die aber alle eines gemeinsam haben: Einen Perspektivenwechsel weg von all diesen unsäglichen, als solche und deren verhüllende Funktion unerkannten respektive geleugneten Ideologien hin zu Empathie.
Lauwers betrachtet die Komplexität der Welt und die der Kunst. Seine Poesie zerschneidet mit dem Skalpell die Haut der Dinge, sie demontiert alle Sicherheitesnetze, sie gräbt sich schonungslos und mit klugem Herzen in die unter den sichtbaren Oberflächen liegenden Ebenen, ohne Rücksichten auf moralisch-ethisch und philosophisch-ideologisch argumentierte Grenzen. So gelangt er zum Eigentlichen, zum Menschen. Die Dringlichkeit des Stückes spricht für die der Kunst, für die Notwendigkeit des Verstehen-Wollens und dafür, persönliche Verantwortung zu übernehmen für den Zustand der Welt.
„All the good“ zeigt das in der Welt etablierte und konsolidierte Unmenschliche. Das Stück formuliert einen dringenden Appell für mehr Menschlichkeit und vor allem: Empathie. In allen Bereichen, auf allen Ebenen. „All the good ist ein extrem kompliziertes Bild.“, sagt am Ende jemand.
Jan Lauwers/Needcompany mit „All the good“ am 17. Juli 2022 im Wiener Volkstheater im Rahmen von ImPulsTanz.