Was haben die alten griechischen und römischen Dichter und Poeten mit dem heutigen Artensterben zu tun? Diesen Zusammenhang untersucht der rumänische, in Berlin lebende Choreograf und Tänzer Sergiu Matis in seiner 2019 entstandenen Arbeit „Hopeless.“. Die zweieinhalb Stunden ohne Pause in drei unterschiedlichen Settings gestaltet er als mannigfaltige Herausforderung für sein Publikum.
Die Reihe „Choreographic Convention“, heuer in ihrer siebenten Auflage, beschäftigt sich in Budapest und bei ImPulsTanz in Wien interdisziplinär mit Möglichkeiten, eine nachhaltigere Zukunft zu generieren. Das Wiener Odeon mit riesigem Foyer und in große Bühne und steile Tribüne zweigeteiltem Saal bietet Sergiu Matis' Konzept und seiner düsteren Performance einen passenden architektonischen Rahmen.
Nebel im großen Säulen-Foyer und die Stimmen ausgestorbener Vogelarten empfangen die ZuschauerInnen wie in einem tropischen Wald. Die drei PerformerInnen Martin Hansen, Sergiu Matis und Manon Parent bewegen sich durch die verteilten ZuschauerInnen wie Vögel, die sich zuweilen auch begegnen und kommunizieren (brillant gemacht), mehrfach unterbrochen von Sequenzen, in denen sie faktenreich von verschiedensten, mit dem Artensterben zusammenhängenden Begebnissen (Kolonialisierung, Einschleppung fremder und Ausrottung endemischer Arten und deren so manches Mal auch tödlichen Rückwirkungen auf die dort lebenden Menschen) aus Madagaskar, Südost-Australien und anderen Regionen der Welt berichten. Die imitierten Tierlaute münden in Gesang: „This is your return to nature.“
Die Bühne im Saal als begehbare Resterampe einer zerstörten Welt flackert in blauem Licht. Es dröhnt und tost. Die Installation aus drei verteilten Rudimenten von einst intakter Natur aus Flecken von Kunstrasen mit liegenden Autoreifen als Ständer für Baumstümpfe aus Metallstangen, Ölfässern und einem Haufen von Stoffbündeln ist dicht umstanden. Ob der hierfür viel zu vielen ZuschauerInnen sehen nur wenige der Gäste die drei wie Schiffbrüchige in Lumpen gehüllt und mit Rucksäcken, dem Wahnsinn nahe, durch die todgeweihte Landschaft irren auf der Suche nach (gefiedertem) Leben und Rettung. „Alle Aspekte der Existenz sind instabil und nicht ewig.“
Und endlich dürfen die ZuschauerInnen auf der nun freigemachten Tribüne ihre Plätze einnehmen. Die Drei breiten eine lange blaue Plane aus, die wie ein Fluss in der Landschaft liegt. Auf der Picknickdecke blasen sie Rohrflöten, singen „I turn into a tree.“ und „Hurting culture“, meckern wie Lämmer, scheinen zu regredieren, werden zu Wesen, die tierische Bewegungen in eine Folge von nur skizzierten Volkstänzen aus aller Welt und von klassischem Vokabular flechten. Eine beeindruckend getanzte Fusion von Natur und Kultur. Und sie stürmen auf das Publikum zu, attackieren die Zerstörer. Manon Parent baut mit Schaumstoffbahnen und einer langen Stange eine Art Baum und stellt ihn auf, während Martin Hansen und Sergiu Matis einen Kampf austragen, in dem seine Waffe den Einen selbst tötet. Die Frau forstet auf, die Männer zerstören. In winziger Geste die klare Analyse: Das Patriarchat ist das alles tötende Gift.
Tänzerisch zeigen sie ihre Ankunft in Griechenland an und leiten damit den letzten Abschnitt des Abends ein. Sie rezitieren, spielen, singen und tanzen alte und neuzeitliche Übersetzungen von Theokrits „Idyllen und Epigramme“ und Vergils „Hirtengedichte“. Ein Highlight ist das Geigenspiel Manon Parents (sie hat neben zeitgenössischem Tanz auch klassische Violine studiert). Ein weiteres der Sound von Antye Greie (Komposition und Soundscape) und Ivan Bartsch. Ein eingespieltes klassisches Orchesterwerk begleitet einen Tanz der drei. Das klassische Material brechen die zwei Männer mit Tier-Bewegungen. Gibt es doch noch Hoffnung auf eine Koexistenz von Natur und Kultur? Die drei reiten eine Attacke aufs Publikum, die Musik gerät durcheinander.
Die Schlusssequenz des Werkes loopen und überlagern sie zu einem nicht enden wollenden, schmerzhaften Hinauszögern des von vielen schon sehnlich gewünschten Endes. Aber das kommt noch lange nicht. Viel Text folgt. Sehr viel. Quälend lange ziehen sich die erst englisch, dann deutsch vorgetragenen und gespielt-getanzt-gesungenen Poeme von Theokrit und Vergil. Mit den letzten Sätzen aber wird eine der Intentionen des Stückes vollends sichtbar. Falls seine Ziegen hungers gestorben sind, lädt sie ihn, der seine Heimat laut beklagt verlassen musste, ein, sich bei ihr zu laben.
Die Bandbreite der Fähigkeiten der drei PerformerInnen, Tanz, Musik, Gesang, Laut-Immitation und Theater, das dabei gezeigte Niveau und die physische und mentale Leistung des Performens von „Hopeless.“ setzen Maßstäbe und wurden lautstark honoriert. Die für viele, die den Saal polternd verließen, unerträglichen, vom Choreografen jedoch bewusst erzeugten Längen des Stückes mögen als solche metaphorisch stehen für die Allmählichkeit von destruktiven Prozessen, in deren Verlauf korrigierendes Handeln möglich wäre, aber unterlassen wird.
Die im Hirtengedicht schon vor 2000 Jahren poetisch beschriebene, das eigene Überleben sichernde rettende Alternative repräsentiert das eine ganze Kultur prägende Verhältnis zu sich selbst und ihren Umwelten. Kolonialismus, Raubbau an der Natur und deren systematische, rücksichtslose Zerstörung und soziale und gesellschaftliche Diversifizierungen in immer mehr und kleinere, miteinander konkurrierende Einheiten deuten auf die alten philosophisch-religiösen, letztlich ideologisch-psychologischen Wurzeln der sich heute manifestierenden Anthropozentrik und grassierenden Egozentrik.
Sergiu Matis mit „Hopeless.“ am 16. Juli 2022 im Wiener Odeon im Rahmen von ImPulsTanz.
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