Den Tanz dort sprechen zu lassen, wo Worte fehlen: Dieses wunderbare Potential wurde für die Eröffnungsproduktion des Tanztheaterfestivals hochaktuell von sechs aus der Ukraine vor dem Krieg geflohenen Tänzerinnen genutzt. Und die den Grazern wohlbekannte tanztheatrale Sprache des russischen Choreografen Evgeny Kozlov erreichte unter diesen besonderen, diesen prekären Umständen, ganz besonders unmittelbar ihr Publikum. „Dance for Ukraine – RawwaЯ“: das optische und inhaltliche (raw- rau) Wortspiel im Titel weist darauf hin, dass dieses zerstörerische Phänomen ein vielschichtiges ist. Freilich eines, das in seiner Ursache und in seinem Ziel – der Zerstörung des Andersartigen - immer gleich ist.
Das Ergebnis eines zweimonatigen künstlerischen Austausches und Erarbeitens zwischen einem erfahrenen, international agierenden Tänzer-Choreografen und Künstlerinnen, denen die lebensbedrohlichen Inhalte durch konkrete Erfahrungen in unmittelbarer Umgebung ins Gesicht geschrieben und unter die Haut gegangen sind, sind Gruppenszenen von bildhafter Kraft; allesamt arrangiert im beständigen Fluss unterschiedlicher Tanz-Stile.
Das Wissen um die zahlreichen persönlichen Hintergründe des Gestalteten sowie die wohlüberlegt eingesetzten Texte (zitiert von den Tänzerinnen in Ukrainisch und Englisch) verleihen der Rezeption zusätzlich Tiefe.
Geplant war eine multisensorische Produktion: Dass einiges davon nicht umgesetzt wurde oder werden konnten (Gerüche/Düfte, Licht – in der beginnenden Dämmerung kaum zu bemerken) tat der Intensität des derart realisierten Konzepts keinen Abbruch; und dass das Video – mit Feuer, (Friedens)Vögeln etc – ebenfalls im Dämmerlicht weitgehend unterging, war nahezu gut so: Die Ausdrucksstärke des Tanzes hat und hatte im gegebenen Fall Eigenkraft genug. Ohne dass auf die großartige Musik von und mit Phil Von aus Frankreich vergessen werden darf, der als steppender Sänger-Darsteller abwechselnd und gleichzeitig Kontrapunkt und dramatischer Verstärker war.
Zwei Mal Vivaldis Jahreszeiten
Ein langsames, zartes Emporstreben und tastendes Entfalten ist es, mit dem Sarah Jane Taylor in ihre und ihres Tanzpartners poetische Welt der Bewegung entführt. Sie und James Wilton erkunden in ihrer Choreografie „The Four Seasons“ (Max Richter/Vivaldi) eine Welt des Miteinander, ihres Miteinander. In erkundenden Solo-Passagen setzen sie sich jeweils mit dem eigenen Ich auseinander, das die Basis für die Gemeinsamkeit darstellt Die hierbei zu erlebende Geschmeidigkeit, die Körperbeherrschung, die jede Faser in ihnen zu erreichen scheint, lässt in beider ebenso harmonischen wie variationsreichen Bewegungsfluss eine Zielstrebigkeit erkennen, die ihresgleichen sucht – und also etwas ist, was zueinanderfinden muss, die beiden zueinanderfinden lässt: in Höhen und Tiefen, in Nähe und Abstand – und immer wieder in unvergleichlicher Übereinstimmung.
In welchem der wechselnden Tempi und Rhythmen auch immer, in welcher bodennahen, ja nahezu in diesen eindringenden, ihn aufsaugenden Passage (Taylor) oder aber in welch akrobatischer, lufterobernder Sprungkraft (Wilton): Die beiden lassen ein technisches Können und eine Authentizität in ihrem künstlerischen Tun erfahren, die einen Zugang zu dieser zeitgenössischen Kunstform weit öffnen. Zusätzlich zum Erleben brillanten Schönheit, mit der sie ihre Zwiegespräche führen: die mit sich selbst, mit dem Partner und – nicht zuletzt – mit der Musik. Da bedarf es keines Bühnenbildes, keiner noch so künstlerisch anspruchsvollen Lichtführung (wie dies normalerweise natürlich der Fall ist): Diese beiden füllen auf sich gestellt die Bühne und ihr Publikum mit Begeisterung.
Eine interessante Programmgestaltung wurde durch das zweite, kürzere Tanzstück dieses Abends erreicht: Setzt sich doch Sead Vuniqi (Kosovo) in „Cold Night“ ebenso und doch völlig anders mit Vivaldis Jahreszeiten auseinander. So emotional der eingangs von ihm zitierte Text zum Thema Einsamkeit auch ist, so expressiv er sein Solo zu gestalten versucht: Es mag die Verwurzelung in Klassischer Technik sein, die die tiefen Schichten dessen, was vermittelt werden soll, verdeckt. Eine eigenwillige, sehenswerte Interpretation ist seine Darbietung allemal.
Creative Lab mit Katerina Teise
Eine Konfrontation mit Performativem, mit Multi-Sensualem, wie die Ukrainerin Katerina Teise, (Creative Director of Slava’s Snow Show) ihre 5teilige Reihe charakterisiert, bot die Künstlerin in Form von jeweils 30 minütigen Vorführungen an 5 Abenden. Arbeiten, die während ihres „Creative Labs“ im Rahmen der Bühnenwerkstatt entstanden sind. Thematisch umkreist sie mit sehr offen und breit aufgefassten darstellerischen Mitteln wie auch mit solchen aus der bildenden Kunst allgegenwärtige Konfliktpotentiale. Sie strebt mit ihrer Kunstauffassung eine lustvolle, alle Sinne umfassende Rezeption des Hier und jetzt an.
Das freudvolle Spielen und Entdecken von Verdecktem ist in den Produktionen „Ye! LOVE“ und „White Dreams“ spürbar; der darunterliegende Ernst vor allem in ersterer: „Wir haben die Glücklichkeit verloren“, während in den weißen Träumen die unendlich große Welt der Fantasie zwar mittels Materialien fantasiereich angedeutet wird, im Darstellerischen jedoch eine größere Griffigkeit fehlt. Spaß scheint es den Teilnehmerinnen und auch dem Zuschauergrüppchen aber gemacht zu haben.
31.Internationale Bühnenwerkstatt/Tanztheaterfestival Graz (9. bis 21.Juli 2022): „Dance for Ukraine – RawwaЯ“: Premiere am 10. Juli 2022; James Wilton Dance : „The Four Seasons“ und Sead Vuniqi: „Cold Night“ am 11. Juli 2022 im Lesliehof, Graz; Katerina Teise: „Ye! LOVE“ 13.Juli und „White Dreams“ am 14.Juli im Kunsthaus Graz