Und noch ein Corona-Stück! So möchte es einem, überdrüssig der sich ähnelnden Sujets, entfahren. Doch die französische Choreografin und Tänzerin Mathilde Monnier singt nicht mit im vielstimmigen Chor des in den letzten zwei Jahren vor allem viral so oft zu vernehmenden Jammers. Wir sollten nicht vergessen, was das Eingesperrtsein und die Isolation während der Lockdowns mit uns gemacht hat. Davon ist sie fest überzeugt. Ihre im ersten Corona-Sommer 2020 entstandene Arbeit „Records“ versucht Emotionen wie auf einer Schallplatte aufzuzeichnen.
Ein Unwetter zieht auf. Die dunklen Regenwolken auf der Leinwand hinter der weißen Wand, dem einzigen Requisit auf weißem Boden (Set Design, Videos: Jocelyn Cottencin), drohen mit Wind und Donner von der Bühne. Nach und nach erscheinen die sechs Tänzerinnen, verteilen sich im Raum. Jede ist für sich. Eine, ganz vorn, stützt gebeugt die Hände auf die Knie und schaut ins Publikum. Die anderen von irgendwo. Lange. Was nun? Was tun? Und sie blicken nach hinten, auf das nahende Unheil.
Die weiße Wand ist Spiegel und Widerpart. Abtasten und ausmessen, was ist, versuchen, was geht. Befindlichkeiten erforschen, sich ihnen stellen, sie aushalten, akzeptieren, sie durchleben einerseits und die mit all den Einschränkungen und Behinderungen verbleibenden Möglichkeiten ent-decken andererseits.
Mit freien Oberkörpern, schutzlos, doch auch sie selbst, performen die sechs Tänzerinnen sechs Reisen durch Gefühle in der Isolation. Begleitet, angetrieben vom Gesang der kanadischen Dirigentin und Sopranistin Barbara Hannigan. Die Komposition von Luigi Nono klingt depressiv, fast traurig. Aus dieser Grundstimmung heraus, verunsichert und ratlos, der Kontakte und der direkten Kommunikation beraubt, zurückgeworfen auf sich selbst und seinen Gefühlen von Vereinsamung, auch Sinnkrise, ausgeliefert, entwickeln die Tänzerinnen individuelle Strategien, mit den emotionalen Konsequenzen der erzwungenen Untätigkeit und der häuslichen Isolation umzugehen.
Sie beginnen im Sitzen zu tanzen, das Licht (von Eric Wurtz) geht vom Weißblau ins Orange, sie erfahren, dass Einsamkeit nicht nur sie allein erleben, sie synchronisieren ihre Bewegungen und damit ihre Empfindungen in wechselnden Konstellationen. Und das Unwetter hat sich verzogen, die Wolken reißen auf. An die Wand treten sie mit ihren Füßen einen sie einenden Rhythmus. Individuelle Ausbrüche folgen. Die Anderen beobachten. Eine gibt Anweisungen. So könnte es funktionieren. Sie klinken sich aus, erschließen den Raum, bewegen ihren Körper nach eigenem Rhythmus und mit eigenem Material. Handlungsfähigkeit herstellen.
Immer wilder wird das Treiben. „Yes! I did it!“ Eine offensichtlich Infizierte tanzt niesend weiter, trotzig geradezu. Eine trainiert ihr klassisches Bewegungsmaterial. Eine orangfarbene Jacke wechselt von Frau zu Frau. Kämpferische, aggressive Laute und Moves. „Uah! Wow! Yes!“ Es heizt sich auf. Das Groteske der Emotionen, die die Tänzerinnen bis vor die Tore des Wahnsinns treiben, hat zuweilen auch Belustigendes. Die aus dem Geräusch eines Zip-Verschlusses geborene Fliege, die, schon längst erschlagen, in der Frau ein neues Leben lebt, eine andere miaut, während sie tanzt, oder die von Lautmalereien begleiteten physischen Ausbrüche.
Dunkel dröhnt und wummert der Sound von Olivier Renouf im Crescendo. Drei tanzen, drei schauen zu, bevor sie, erstmals dicht beieinander, hampeln und zappeln. Das Licht wieder tief orange, ein Saxophon krächst, der Tanz der Versprengten in Zeitlupe, dann rasend wild.
Die Corona-Pandemie stellte insbesondere darstellende KünstlerInnen vor ganz besondere, noch nie dagewesene Herausforderungen, die auf unterschiedlichste, sehr individuelle Weise zu meistern waren. Die Gefühle in die Körper der sechs hervorragenden Tänzerinnen zu schreiben und durch die Körper erfahrbar zu machen, ist Mathilde Monnier eindrücklich gelungen. „Records“, hier als Österreichische Erstaufführung gezeigt, verschränkt sechs individuelle emotionale Topologien zu einer Choreografie, die bei aller Nabelschau genügend assoziativen Raum lässt für die Welt jenseits der Theatermauern. Dass Monnier von Hoffnung spricht, von der Kraft der und des Einzelnen, diese „Krise als Chance“ (wie hohl mag es manch einem tönen) zu nutzen, setzt das Stück von der Masse der etwa gleichzeitig entstandenen Wehklagen ab.
An der Wand, zwei stehen einander zugewandt, drei in einer Gruppe, endet das vom Publikum bejubelte Stück.
Impulstanz (7. Juli bis 7. August): Mathilde Monnier: „Records“ am 13. Juli im Akademietheater Wien