Der neue Abend des Wiener Staatsballetts an der Volksoper lotet den Raum zwischen Himmel und Erde aus, den die Choreograf*innen Anne Teresa de Keersmaeker, Merce Cunningham und Hans van Manen so unterschiedlich zu nutzen verstehen. Das Programm „Kontrapunkte“ ist eine Hommage an die stilistische Vielfalt des Tanzschaffens im ausgehenden 20. Jahrhundert, die aus den unterschiedlichen Zugängen, Bewegung zu generieren, entstand.
Die Union von Musik und Tanz ist das Thema, das den Wiener Ballettchef Martin Schläpfer antreibt und sie bestimmt auch weitgehend das Programm „Kontrapunkte“. Anne Teresa De Keersmaeker wurde von Beethovens „Große Fuge“ inspiriert, der Schwerkraft nachzugeben und sie gleichzeitig zu überwinden (Uraufführung 1992 in Brüssel).
Aus dem Fallen und Rollen entsteht das Momentum für das Aufstehen, um aus dem Stand gleich wieder zu Boden zu sinken. Das versetzt die sieben Tänzer und eine Tänzerin in schwarzen Anzügen und weißen Hemden in eine Bewegung des Fliegens, die durch den Impuls von schnellen Drehungen noch verstärkt wird. Während einige das Gefühl sichtlich zu genießen scheinen, fühlen sich andere in der für sie ungewohnten Dynamik nicht ganz so wohl. Doch insgesamt gelingt der kollektive Flug hervorragend. Musikalisch kongenial begleitet wurde das Ensemble von Bettina Gradinger, Kota Morikawa, Peter Sagaischek und Roland Lindenthal.
Unter den Pionier*innen des Modern Dance war die Tanztechnik des Merce Cunningham näher am klassischen Ballett als jene seine Zeitgenoss*innen. Eine Art Ballett mit Understatement, bei dem es nicht darum geht, den Körper über seine Grenzen hinaus zu trainieren, sondern ihn für die Reise durch Zeit und Raum vorzubereiten: aufrechte Haltung bei einer gleichzeitig flexiblen Wirbelsäule, die sich beugt, dreht und wendet, wenig Bodenkontakt, dafür aber Schnelligkeit, abrupte Richtungswechsel und rhythmische Präzision. Emotionen und individuelle Befindlichkeit, die etwa das Werk von Martha Graham prägten, (in deren Compagnie er als Tänzer gewirkt hatte), interessierten Cunningham nicht. Im Mittelpunkt seiner Arbeit, die er mit seinem künstlerischen und Lebenspartner, dem Musiker John Cage entwickelte, stand das Infrage-Stellen von musikalischen und tänzerischen Konventionen und Traditionen. Sie experimentierten mit den neuesten Technologien ebenso wie mit dem Zufallsprinzip, etwa nach einem der ältesten chinesischen Texte, dem „I Ging“. Viele ihrer experimentellen Ansätze haben Nachfolgegenerationen bereits als selbstverständlich in ihren Formenkanon eingearbeitet.
Cunningham hat nach seinem Tod die Auflösung seiner Compagnie verfügt. Nun sind einzelne Werke im Repertoire anderer Ensembles zu finden und tragen so das tanzhistorische Erbe weiter. Erstmals fand mit „Duets“ (uraufgeführt 1980 in New York) eines seiner Stücke Eingang ins Repertoire des Wiener Staatsballetts.
Heute nimmt sich Cunninghams Stil eher brav aus, die Farbpalette der Kostüme von Mark Lancaster wirkt nahezu befremdlich. Vordergründig verrät nichts die revolutionären und intellektuellen Zugänge der beiden Künstler, die freilich auch hier eingesetzt wurden. Mit einer für die Entstehungszeit zukunftsweisende Methode hat John Cage den Sound für dieses Event, „Improvisation III“, konzipiert, in der in einer Arts Sampling-Technik Einspielungen von Peadar und Mel Mercier von zwei Musikern nach dem Zufallsprinzip verwendet werden. In Orchestergraben der Volksoper kreieren Béla Fischer und Michael Fischer den treibende Percussion-Score.
Choreografisch lösen sich die Paare in kurzen Pas de deux auf der Bühne ab, da windet sie sich um ihn, oder sprinten beide in schnellen, kurzen Splits über die Bühne, der Oberkörper beugt sich im typischen Cunningham-Winkel, die Richtung wird plötzlich geändert. Im Gegensatz zu de Keersmaeker, die zur Beethovens Musik Energien freisetzt, läuft hier alles kontrolliert und geordnet ab. Noch können die Wiener Tänzer*innen die feinen Unterschiede in ihren klassisch trainierten Körpern nicht überzeugend umsetzen, es fehlt an Geschmeidigkeit, Gelassenheit und Zurücknahme. Die Virtuosität will sich hie und da unbedingt in den Vordergrund drängen.
Krönender Abschluss des Abends sind „Four Schumann Pieces“, die Hans van Manen 1975 für das Royal Ballet London choreografiert hat. Van Manen verkörpert die Eleganz der Neoklassik, distanziert sich in seiner Bewegungssprache von romantischen Konnotationen in der Musik von Robert Schumann – von den Musiker*innen gleichermaßen leidenschaftlich interpretiert wie zuvor Beethovens „Große Fuge –, während er sie gleichzeitig in eine choreografische Struktur übersetzt. Fünf Paare und ein Solotänzer sind hier in unterschiedlichen Konstellationen eingesetzt. Ganz in der Tradition der Dance d'école richten sich die Scheinwerfer auf die Tänzerinnen und Tänzer, werden Hierarchien geachtet. Hyo-Jung Kang und Denys Cherevychko sowie Liudmila Konovalova und Alexey Popov sind die Hauptpaare, Elena Bottaro und Igor Milos, Sonia Dvořák und Géraud Wielick sowie Aleksandra Liashenko und Andrey Teterin bilden die zweite Gruppe. Die Kostüme sind dezent farblich aufeinander abgestimmt und unterstützen die Noblesse dieses Balletts.
Zentral ist das Solo für einen männlichen Tänzer, ursprünglich für Anthony Dowell kreiert und später auch von Rudolf Nurejew getanzt. In Wien wird es von Davide Dato verkörpert. Bei der Premiere schimmerte noch der Respekt vor den Vorgängern durch, doch Dato bringt alles mit, was es für diese Rolle braucht: Eleganz, Technik und Empathie gegenüber seinen Mittänzern, mit denen er auf unterschiedliche Weise zu interagieren hat. Da kann er ruhig noch selbstbewusster auftreten.
Wiener Staatsballett: „Kontrapunkte“, Premiere am 4. Juni 2022 in der Volksoper Wien. Weitere Vorstellungen am 9., 14., 21., 24. und 28. Juni