Interdisziplinäre Kunstprojekte mit dem Fokus auf zeitgenössischen Tanz und elektronische Musik zu fördern und zu produzieren schrieben sich die Tänzerin, Choreografin und multidisziplinäre Künstlerin Bianca Anne Braunesberger und der Musiker und Ingenieur Stefan Zotter in die Agenda ihrer 2011 in Oberösterreich gegründeten Kompanie „tauschfühlung“. Für diesen im doppelten Sinne einmaligen Abend programmierte Braunesberger neben zwei eigenen Arbeiten drei Stücke befreundeter, in Wien lebender Choreograf*Innen.
„Approaches“, getanzt von Bianca Anne Braunesberger und Vito Vidovič Bintchende, entstand in einer Kooperation für den Dokumentarfilm „Liebes:Leben“ von Carola Mair, in dem häusliche Gewalt und in diesem Tanz insbesondere das therapeutische Verarbeiten des posttraumatischen Stresssyndroms in den Focus gestellt werden. Gemeinsam mit den beiden Musikern Sebastian Achleitner und Stefan Zotter, die live elektronischen Sound erzeugen, beschreiben Bianca und Vito mit ihrem Tanz konflikterzeugende Aktions- und Reaktionsmuster, gehen aber auch möglichen Lösungsansätzen nach. Wut, Aggression und Gewalt, Zärtlichkeit, Fürsorge und Einklang, Festhalten und Loslassen, Verweigerung und Zulassen. In sich und am Anderen.
Die Tänzerin und Choreografin Victoria Primus lud für ihre bei der ars elektronika 2021 uraufgeführte Arbeit „Nocturne“ die erst etwas später aus dem Publikum erscheinende Tänzerin Jeanne Lakits ein. Zur Musik von Tate Chavez erkunden die Zwei „den Mikrokosmos der Materie in Bewegung“. Tatsächlich scheinen die zwei Tänzerinnen zuweilen wie frei bewegliche Atome, die sich unabhängig voneinander und doch nicht ohne zu kommunizieren bewegen. Einerseits. Andererseits weist Victoria Primus mit einer Reihe von angedeuteten Frühlings-Ritualen auf einen Neubeginn. Weich zum Beispiel lässt sie Bewegung durch sich hindurchfließen, zieht, im warmen Spot stehend, das Licht zu sich herab oder steht Holz hackend auf der Stelle. Der Sound spielt eine dramaturgische Hauptrolle: von Horror-Szenerie, sie überlagernden oder ablösenden Streicher-Soli bis zu mit elektronischen Flächen unterlegten Vogelstimmen. Das Sterben jeder Hoffnung in einer Welt voller Unbill will Victoria Primus nicht zulassen. Zwei fantastische Tänzerinnen im optimistischen Widerstand.
Einem weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung und aus dem Leben der Mitteleuropäer verdrängten Thema widmet die in Venezuela geborene Tänzerin, Choreografin und Yoga-Lehrerin Indira Nuñez ihr Stück „La Señora Muerte“ („Frau Tod“). Unter anderem die Auseinandersetzung mit dem Tod ihres Vaters führte sie schließlich in die innere Notwendigkeit, dem Kreislauf von Leben, Sterben, Leben mit einem künstlerischen Akt zu begegnen. In ihrem Tanz in Schwarz gebären Klage, Trauer und Verzweiflung neues Leben. Die in Wien lebende Indira Nuñez tanzt und spielt die Bandbreite der Emotionen der auf beiden Seiten an den Prozessen Tod und Wiedergeburt oder Vergehen und Entstehen Beteiligten. Ihr Tanz mit den Dämonen der Angst und der Sieg über sie gräbt an den Fundamenten unserer universal-ignoranten, individuellen wie gesamtgesellschaftlichen seelenlosen Rendite-Maximierungs-Ideologie.
Die gebürtigen Italiener Alberto Cissello und Martina De Dominicis stellen mit „Style“ zur Musik von Dominik Puk eine choreografisch komplexe brillante Studie vor, die die beiden Später-Studierenden im Rahmen ihres Master-Studium-Abschlusses an der Bruckner-Universität Linz erarbeiten. Noch unfertig, „es könnten noch einige Minuten mehr werden“, zeigen die Beiden ein von Vertrautheit und Reife geprägtes, mit beeindruckender Präzision in Bewegung und Timing durchaus an Lucinda Childs erinnerndes Duett. Tempo- und stilistische Variationen, sensibles Wahrnehmen des und Reagieren auf den Anderen, die unübersehbare Harmonie in der künstlerischen Beziehung der Beiden und das hohe choreografische und tänzerische Niveau begeisterten. Trotz des formell-strukturellen Ansatzes und ohne Geschichte ging diese Performance unter die Haut.
Corina Hoser und Adrian Infeld tanzen mit „VISHUDDHA – Duett Variation“ eine Choreografie von Bianca Anne Braunesberger zum Sound von DMC. Vishuddha bezeichnet in Sanskrit das Kehlkopf-Chakra, das Tor zum individuellen Ausdruck, zur Seele. Text begleitet den expressiven, teils akrobatischen Tanz. Vom Körper, der ausdrücken kann, was Worte nicht schaffen, wird in der Einspielung geredet, vom Im Moment Sein, sich lebendig Fühlen und in seiner eigenen Freiheit. „Wachse!“ Mit allem verbunden und von diesem Gefühl überwältigt zu sein. „Verbunden mit dem Moment. Das ist dein Licht im Dunkeln!“ Sie kreisen umeinander, gehend, tanzend, laufend, halten sich und zeigen sich auch in den solistischen Parts als starke Tänzer. Feinfühliges Interagieren, respektvolles Kommunizieren.
Fünf thematisch und künstlerisch sehr unterschiedliche Arbeiten, die dennoch dreierlei verband. Die TänzerInnen, ChoreografInnen und MusikerInnen haben die „Anfang 20“ bereits mehr oder weniger weit hinter sich, was deutlich spürbar persönliche Reife und ausgeprägte Individualität in die künstlerische Arbeit einträgt. Keine(r) der Beteiligten empfindet einen Drang zur Attitüde und ausnahmslos alle tanzen auf hohem Niveau.
„Performing Puzzle / Platform for contemporary dance in short pieces“ am 26. Mai 2022 im OFF-Theater Wien.