Mehr Respekt für unseren Planeten. Lange schon wollte man beim Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz eine Arbeit der Norwegerin Ina Christel Johannessen vorstellen. Die Choreografin konzentriert sich seit Jahren ausschließlich auf Inhalte, die sie selbst interessieren und beschäftigen. Dazu zählen vor allem Umweltthemen, klimatische Veränderungen oder die Zerstörung der Natur.
Erst als Ballettchef Karl Alfred Schreiner der innovativen und führenden Tanzschaffenden aus Skandinavien Shakespeares „Der Sturm“ vorschlug, wurde man sich einig. Nun hatte Johannessen eindringliche Tanzversion des Zaubermärchens Premiere – mit einem Jahr Verzögerung aufgrund der Pandemie.
Das Stück beginnt in medias res mit einem zerstörerischen Hurrikan, gefolgt von zahlreichen individuellen, emotionalen Stürmen. Musikalisch hin und hergeworfen von einem wütend-kratzigen Gewittergrollen des Komponisten Alfred Schnittke kämpfen drei Gestalten auf dem überbauten Orchestergraben vor einer Projektion aufgepeitschter Wassermassen ums Überleben. Als die Bühne sich öffnet, wird ein riesiger Steg auf wüstenfarbigem Boden sichtbar. Er dominiert Prosperos abgelegene Inselwelt, die nach der Flut unter großer Trockenheit leidet. In der Ferne verliert sich das Tuten eines Dampferhorns. Und eine erste kleine Vierergruppe tanzt Hand in Hand, so als ob ein Seil ihn Schutz vor dem Verlorengehen geben könnte.
Die gestrandeten Menschen haben auf den ersten Blick wenig gemein mit jenen Figuren, die Shakespeare in seinem womöglich letzten Stück nach viel Hass eine Konfliktlösung in der Versöhnung finden lässt. Vielmehr erinnern sie an Migranten, die sporadisch in einen totenähnlichen Schlaf fallen. Oder an Flüchtlinge, die trotz Erschöpfung immer und immer weiter marschieren müssen. Der Sturm im „Sturm“ wird ein Mittel zum Zweck, um uns die Abgründe der unachtsamen Vernichtung unseres Planeten vor Augen führen. Statt Handlungsstränge abzuarbeiten oder Charaktere nachzuzeichnen, greift Johannessen grundlegende dramatische Themenkomplexe wie das Verhalten in lebensbedrohenden Krisensituationen auf.
Nach 90 Minuten lässt die Choreografin ihren „Sturm“ vor dem eisernen Vorhang auch wieder ausklingen – mit einem mahnenden Schluss-Satz. Einer der Tänzer löst sich ganz am Ende aus der Gemeinschaft, die gerade einen heftigen Performanceritt hinter sich gebracht hat. Beim Publikum dürfte sich zu diesem Zeitpunkt längst der Eindruck verfestigt haben, dass in dieser Produktion alles bis in die imposanten Soli, Duette und Gruppeninteraktionen vom theatralen Happening her gedacht ist. Anstelle aber weiter mit seinem Körper beredt zu sein, nimmt der Darsteller nun – eindringlich realitätsbezogen – zu Shakespeares Worten Zuflucht.
Er beschließt das in Grundzügen stark performative und stets enorm atmosphärische Stück, indem er Prosperos Rolle übernimmt. Dabei leiht er sich jene englischen Sätze, die Prospero spricht, als er der Handlung – nach dem Segen zur Heirat seiner Tochter Miranda mit Ferdinand, dem Sohn seines brüderlichen Widersachers – den entscheidenden positiven Richtungswechsel gibt. Verbal ein starkes, ja hoffnungsvolles Zeichen an diesem Abend. Die Textpassage passt letztlich fein zum Kern von Johannessen „Sturm“-Adaption. Zugleich werden dadurch einige szenische Einfälle der norwegischen Ausstatterin Kristin Torp bzw. bewusst gleißende, verwaschene visuelle Übergänge der Videodesigner Meike Ebert und Raphael Kurig sinnfällig aufgelöst. Toll sind auch Peter Hörtners Licht- und Schattenspiele. Mehr braucht es nicht, um hier unter Einsatz der Drehbühne immer wieder neue „Wüstenraum“-Situationen zu erschaffen: oft magisch beengt wirkende oder unendlich weite Bühnenräume.
Dann aber fügt Alexander Quetell, der allein auf der leeren Rampe einen Pflanzenkübel an sich drückt, noch die unmissverständlich an uns – die Zuschauer – gerichteten letzten Worte hinzu: „Friends, I am worried.“ So leicht kann man das Publikum konstruktiv beunruhigen wie in die Pflicht nehmen. Passend nach einer bildmächtigen, musikalisch ziemlich aufgewühlten, in seiner Erzählweise langsamen, im Wechsel von taghellen und nächtlichen Stimmungen mit der Dauer von Zeit spielenden und dennoch konsequent auf ein befreiendes Finale zusteuernden Inszenierung.
Das funktioniert insbesondere deshalb, weil es Johannessen zuvor tatsächlich gelungen ist, etwas so Heikles wie das Potenzial friedfertiger Hoffnung herzustellen. Drei allegorisch üppig mit viel Blattwerk und Blumenschmuck bekleidete Figuren dienen der Choreografin hierzu: Iris, Juno und Ceres sind Shakespeares Vorlage entnommen und betreten die Bildfläche plötzlich wie aus dem Nichts. Quasi durch einen Wink der Natur sollen sie jener desolaten Menschenansammlung helfen, die recht anschaulich auf und unter dem gigantischen Schiffsanleger Schutz sucht und sich zum Aufbruch in ein besseres Zuhause rüstet.
Überdeutlich nimmt Ina Christel Johannessen die Verantwortung wahr, mit „Der Sturm“ – ihrer ersten Arbeit in München – auf Missstände und Gefahren hinzuweisen, die von unserer nachlässig-ignoranten Konsumgesellschaft, dem Klimawandel und rücksichtslosem Raubbau an der Natur ausgehen. Ihren „Sturm“ darf man als inständigen Weckruf verstehen. Ihre Forderung: kollektiver Zusammenhalt – gemäß den Leitmotiven „Vergebung, Hoffnung, Freiheit“ in Shakespeares Alterswerk.
In Tonlandschaften für Streicher, Klavier, Percussion, Akkordeon und die klare, helle Stimme eines Knabensoprans (Loris Gusbeth aus dem Kinderchor des Gärtnerplatztheaters) hat Johannessen dafür klanglich faszinierende Entsprechungen gesucht und bei Alfred Schnittke, Frédéric Chopin, Luc Ferrari, Sofia Gubaidulina, Tommy Jansen und Georg Friedrich Händel gefunden. Da alle Mitwirkenden in das Geschehen eingebunden sind, werden das komplette 20-köpfige Tänzerensemble, der singende und noch ein Junge sowie die acht live aufspielenden Musikerinnen und Musiker auf der Bühne Eins. Das verdient Anerkennung und Respekt. Denn wer – trotz vieler Szenen ohne eigentlichen Tanz – nicht aufgibt wie sie alle, auf den wartet die erlösende Schiffsglocke.
Es fügt sich bestens, dass die Kompanie des Gärtnerplatztheaters am 25. Juni für ihre beeindruckende stilistische Vielfalt im Anschluss an eine „Sturm“-Vorstellung mit dem Tanzpreis der Stadt München ausgezeichnet werden wird. Schließlich hat die norwegische Gastchoreografin unübersehbar intensiv daran gearbeitet, den Tänzern die enorme Ausdrucksskala noch so kleiner Gesten, Schwünge oder Blicke bewusst zu machen. Man entwickelte tänzerische Sequenzen, in denen sich figürliche Verhaltenseigenschaften eines ungeschlachten Caliban, des Luftgeists Ariel, von Prospero oder dessen Tochter Miranda widerspiegeln. Aus der gemeinsam entwickelten Körpersprache wurden dann starke Bilder geformt, die letztlich mehr als nur eine simple, musikalisch schön dahinfließende Geschichte erzählen.
Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz: „Der Sturm“ von Ina Christel Johannessen, Premiere am 25. Mai, nächste Vorstellungen am 1., 12., 25. Juni, 12., 15. Juli.