Männlichkeit und ihre Repräsentation, basierend auf historischen Wurzeln, gesellschaftlichen Prägungen und dem individuellen Selbstverständnis der mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geborenen Hälfte der Bevölkerung thematisierten im dritten und letzten Teil des Klein-Festivals „Rakete“ des Tanzquartier Wien der/die türkisch-stämmige Caner Teker und der Südafrikaner Tiran.
caner teker: „KIRKPINAR“
Zwei schnaubende Kreaturen lösen sich aus den Ecken und kriechen an den Zuschauenden vorbei. Auf allen Vieren, mit Boxhandschuhen und Knieschützern nähern sie sich den im Vierkant auf dem Boden Sitzenden auf fast beängstigende Weise. Die tiefen, drohenden Töne des elektronischen Sounds, kratziger und aggressiver als noch am Anfang, tun das Ihre dazu.
Der Weiße und der Schwarze stampfen in ihren Lichtkegeln mit den Fäusten in den Boden. Animalisch wirken sie, wie angriffslustige Primaten. Einen Arm lang nach hinten gestreckt, ein Bein aufgesetzt und beide Arme ausgebreitet, wandeln sich die Wesen in auf den Knien posende Bodybuilder. Mit manchmal durchscheinender Gay-Attitüde. Die kurz einmal gebleckten Zähne lassen einen goldenen Frontzahn aufblitzen. Rapper-Ästhetik als eine weitere Beigabe.
Der quadratische Wrestling-Ring aus Stahlrohren, den sie errichten, wird zur Schaukampf-Arena. Die Bikerhosen zu ihren mit Olivenöl zum Glänzen gebrachten nackten Oberkörpern, das Umkleiden und auch gegenseitige Einölen scheinen fast rituellen Charakters zu sein, führen zum Titel des Stückes. Kirkpinar ist ein von ottomanischen Kriegern im Jahre 1360 erstmals organisierter Öl-Ringkampf, der seit dem jährlich stattfindet und damit das älteste regelmäßig durchgeführte Sportereignis darstellt. Dessen Wurzeln reichen 4000 Jahre zurück nach Ägypten, später Persien und ins Römische Reich. Der Gewinner dieses Kräftemessens drückt seinen Gegner zu Boden oder hebt ihn über seinen Kopf.
Bei caner teker und seinem Co-Performer Élie Autin wird aus diesem einen Sieger suchenden Wettkampf ein lustvoller, zärtlich-rauer Playfight, zwischen kämpferischem Kräftemessen und homoerotischem Spiel changierend. Ihr eng verschlungenes Rollen über den Teppich im Ring, das Verharren in Posen, verhakt und verschränkt ineinander, Gesicht an Gesicht, den Kopf auf der Brust des Anderen, gipfelt, an der Stange hängend, in einem Kuss. Dann liegen sie da, während ihr Reden verebbt.
Der Erzähler jedoch ist der Sound von Lou Drago. Die Klänge führen den Zuschauenden akustisch durch die Zeiten und Kulturen, durch Zustände und Umstände der Welt, durch Stimmungen und Gefühlslagen. Vom Bedrohlichen und Bedrohten hören wir, von Harmonie, Schönheit und Liebe, von heidnischer und sakraler Heiligkeit und von im Kampf behaupteter Würde.
caner teker stellt seine als nicht binär konzipierte Kunstfigur mit „KIRKPINAR“ in die Geschichte des Homo Sapiens. Kraft und deren Präsentation einerseits und Homosexualität andererseits sind uralte, bereits bei unseren direkten Vorfahren, den größeren Primaten, beobachtbare Verhaltensweisen. Kulturelle, politische, religiöse, regionale und gesellschaftliche Antagonismen, so wie auch die der Achtung und Ächtung nicht-heterosexueller Orientierungen und Praktiken, ziehen sich durch die Geschichte der Menschheit wie durch die dieser Performance. Antiker Öl-Ringkampf mit dem ideologischen Staubwedel in die Moderne transponiert.
tiran: „trompoppies: blackmilk“
Was saugt ein Schwarzer „mit der Muttermilch auf“? Und was macht das mit ihm? Und wenn dieser Mann sich später als queerer Schwarzer erlebt, wie mag sich das anfühlen? Fragen solcher Art drängt einem „blackmilk“, die erste von drei Arbeiten unter dem Titel „trompoppies“, ins Gefühl und dann ins Bewusstsein. Trompoppies ist ein Ausdruck in Afrikaans, dem „Kolonial-Niederländisch“ Südafrikas, der sogenannte Trommel-Majoretten bezeichnet, die in Uniform Formationstänze aufführen. Die weiße Uniformierung und die Synchronisierung von Bewegung werden zum Sinnbild für eine weiße „Leit-Kultur“, die Unterdrückung von Individualität, das Ignorieren kultureller Verwurzelungen und letztlich für die Normierung der Gesellschaft. Tiran Willemse aka tiran weiß um das Zerstörerische darin.
Unruhiges Suchen. Er steht mal hier, dann dort, kniet links, sitzt auf dem Pult hinten, wispert, streicht die Wand entlang. Forschen nach dem, was ihn ausmacht. Der Sound von Manuel Riegler und tiran droht tief. Der lila Deckenstrahler wandert von der Bühne ins Publikum. „Wo immer du hingehst, ich gehe mit dir. Da ist so viel Welt zu sehen.“ Der vom gelben Deckenlicht geschwängerte dichte Nebel ist wie der in ihm. Den langen schwarzen Mantel abgelegt, umringt von vielen Mikrofonen - welch ein Druck, sich zu ent-äußern - wispert er erneut, die Hände an den Schultern, auf dem Herzen, zur Faust geballt.
Die Hände. Als würden sie ein kaum zu bändigendes Eigenleben führen, als zögen sie ihn hin zu etwas oder weg von sich, als würden sie ihn dirigieren. Die Dynamik, mit der sie vom Innersten berichten, ihre Kraft und Ausdrucksstärke sind überwältigend. Atmosphärisch dichte Bilder brechen die Mauern um uns, machen seine Themen zu unseren. Sein Leiden, sein Protest, die Auflehnung gegen Fremdbestimmung im Innen wie im Außen, im Kleinen wie im Großen, die Ausbruchs- und Emanzipationsversuche sind universell. Jeder kann sich mit seinen eigenen Geschichten erkennen.
Sich hineinzugraben durch die dicken, von Anderen, Fremden, egal, ob Väter oder Götter, Kommunisten oder Kolonisten aufgeschütteten Schichten. Bis man sich selbst beginnt zu spüren.
Und was ist das, was man da spürt? Wer ist man selbst ohne all das Fremde? Und was ist das Fremde? Was man selbst? Was unterscheidet das Eine vom Anderen?
Hip Hop scheint durch seine Moves, Techno auch. Er wehrt sich gegen diesen, rapt. Die vielen Mikros hinten blinken Schatten an die Wand. Es zerrt an ihm, zerreißt ihn fast. Er tanzt den Gay. Und rennt im Kreis, so viele Male. Bis zur Erschöpfung. „I'm not brave! May be, I'm a fool!“
tiran, der (unter vielen anderen) bereits mit Eszter Salamon, Jérôme Bel, Trajal Harrell, Meg Stuart, Ligia Lewis, und dem Cullberg-Ballett unter Deborah Hay und Jefta van Dinther zusammengearbeitet hat, erweist sich wieder einmal als glänzender Tänzer und Performer. In dieser im Januar 2022 bei bei den Tanztagen der Sophiensäle in Berlin uraufgeführten, hier als Österreichische Erstaufführung zu erlebenden Performance erzeugt der in Berlin und Zürich lebende Südafrikaner Bilder, die das disharmonisch Nebulöse seiner (und unserer) psychischen Inhalte materialisieren. Und mit welcher Präzision in Bewegung und Timing. Da ist keine Geste improvisiert, kein energetischer Kontakt mit dem Publikum zufällig. tiran weiß seine Ausstrahlung und seine Präsenz hochprofessionell in den Dienst von Konzept und Intention zu stellen. Seine sich den Tanz drängende Emotion überträgt sich direkt und unmittelbar auf den Zuschauenden. Und den Zuhörenden. Denn der Sound ist, wie in der vorangegangenen Performance, nicht nur akustisches Begleitmaterial.
„Now you see me, now you don't!“ Das physische Versteckspiel weist auf enorme intrapsychische sowie tief in Gesellschaften und Kulturen vergrabene Konflikte. Nach dem jubelnden Applaus führt uns tiran mit stringentem Regiment erst einzeln, dann in größer werdenden Gruppen durch die Backstage-Tür aus dem Studio (in das der vorangegangenen Performance, welch räumlich-inhaltliche Koinzidenz). Denn die, die die Gesellschaft performen, sind wir!
caner teker mit „KIRKPINAR“ und tiran mit „trompoppies: blackmilk“ am 20. Mai 2022 im Tanzquartier Wien.