Die volle Wucht choreografischer Vielseitigkeit. Goyo Montero ist weiter auf Erfolgskurs – seit er vor 14 Jahren die Leitung des Nürnberger Balletts mitsamt Chefchoreografen-Funktion übernommen hat. In beiden Positionen versteht er seitdem zu brillieren. Monteros Ensemble hat längst ein eigenständiges, markantes Profil. In seinen Choreografien lässt der spanische Künstler gerne existenzielle Themen anklingen, untersucht Herausforderungen, denen sich Menschen – gewollt oder unbewusst – stellen müssen. Dazu spannt er stets außergewöhnliche inhaltliche Bögen.
Zuletzt war das beim eindrücklichen Doppelabend „Narrenschiff“ so. Durch den Einsatz gold-silberner Rettungsfolien als unheimlich effektvoll wandelbarem Requisiten- und Dekorationsmaterial reicherte er den ersten Teil „Maria“ (Musik: „Dialoge mit Stabat Mater“ nach Pergolesi von Lera Auerbach), der für die russische Primaballerina Diana Vishneva kreiert wurde, äußerst geschickt an: Der inhaltliche Ursprung in neutestamentarischer Vergangenheit rückte in eine Nähe zu einer wild zusammengewürfelten Gruppe Flüchtiger. Deren zum Titel gewordener „närrischer Aufbruch“ mit Fahrt übers Meer in einem fragilen Boot thematisierte die utopische Suche nach einem besseren Leben ohne Leid, Vertreibung oder Last. Das Ganze zu Liedern von Richard Strauss (kompositorische Bearbeitung von Owen Belton). Seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine mag die sinnlich aufregende Einheit des Doppelabends noch einmal an Aktualität und Brisanz gewonnen haben. In ungeahnter Weise.
Die Kunst des Mehrteilers
Montero ist es auch deshalb so nachhaltig gelungen, die Franken-Metropole auf der europäischen Ballett-Landkarte zu verankern, weil er seine fabelhaft gewachsene Kompanie in regelmäßigen Abständen mit jungen bzw. bereits international renommierten Choreografen-Kollegen zusammenbringt. Diese gemischten Programme zeichnet dabei vor allem aus, dass die präsentierten Stücke, die im internationalen Tanzrepertoire bereits prominent sind, niemals bloß wahllos zu Mehrteilern kombiniert werden. Wie nebenbei schwingt von Mal zu Mal eine erzieherische Komponente mit, die Tänzern wie Publikum gleichermaßen gut zu tun scheint.
2020 musste der Dreiteiler „Naharin/Clug/Montero“ – obwohl schon zu zwei Dritteln fertig einstudiert – pandemiebedingt ausfallen. Nun konnte der Abend – fast auf den Tag genau zwei Jahre und einige Neuengagements in der Kompanie später – im Nürnberger Opernhaus Premiere feiern. Endlich. Der Genuss, ihn zu sehen, ist groß – was vor allem den ausgezeichneten Interpreten zu verdanken ist. Chamäleons gleich verändern sie in den drei ausstattungslosen Arbeiten mit dem Wechsel ihrer Kostüme auch Bewegungsstil und Ausdrucksmanier. Individuelle Eigenheiten werden nichtsdestoweniger beibehalten.
Choreografisch-ästhetisch liegen zwischen Goyo Montero, Edward Clug und Ohad Naharin – so die Reihenfolge ihrer Premieren-Beiträge – Welten. Und doch haben alle erstaunlich viel gemein – insbesondere das humorvoll feinmotorische „Handman“, das der Rumäne Clug 2016 für das Nederlands Dans Theater kreiert hat, und „Secus“, Naharins 2005 von der Batsheva Dance Companie uraufgeführtes Schlüsselwerk: Die zwischenmenschlichen Begegnungen darin bleiben jeweils flüchtig. Getanzt wird kraftvoll, akrobatisch, einfach extrem. Trotz mancher formalen Konstruiertheit bleibt Platz für Spontaneität, Emotionalität und Witz. Tanz und Musik gehen eine enge Verbindung ein. Am Ende ist man schlicht überwältigt von mehr als bloß purer Bewegung.
Bekannt ist der israelische Choreograf Naharin für seine bahnbrechende, aus dem Inneren heraus zu Bildern und Köpersprache führende Gaga-Methode. In „Secus“ – bereits dem zweiten Werk von Naharin, das die Nürnberger Kompanie einstudiert hat – wurde den 17 Interpreten die sehr geordnet verlaufende Struktur der Originalchoreografie vorgeben. Natürlich. Darüber hinaus durften die Tänzerinnen und Tänzer physisch und darstellerisch offenbar aus sich herausausholen, was ihnen an kniffeligen Kontorsionen und energetischer Explosivität am meisten entsprach.
Als die Musik zu Beginn laut über sie alle hinwegschwallt, rührt erstmal niemand Hand noch Fuß. Danach geht zu einer Kollage aus elektronischen Klängen und schmissigen Melodien ein discoähnliches Ausflippen los. Einzelne vollführen Saltos und vertikal gesprungene Drehungen, andere schlagen Räder oder Purzelbäume. Wie elektrisiert voneinander bilden sich Paare. Man jagt übers Parkett, fällt und verhakt sich oder gibt sich kurz als Gruppe charmanter, butterweicher Leichtigkeit in Synchronizität hin.
Es ist ein freches Auspowern, reine Lust am Tanz. Ein dem Publikum knallig präsentiertes Feeling, immer geprägt von persönlichen Akzenten. Unmissverständlich wird dem Zuschauer das alles schließlich in prozessionsartigen Formationen aufs Auge gedrückt. Nacheinander treten Tänzer vor und halten einem die blanke Flanke unter dem hochgekrempelten Shirt hin. Das Wort „Welcome“ durchbricht die plötzliche Stille, und Handflächen werden uns entgegen gestreckt. Irgendwann geht die Truppe recht unspektakulär nach rechts und links ab. Das war‘s dann mit dem herrlichen Rausschmeißer in die Nacht.
Seine Handschrift in „Handman“ – ein Werk das Clug laut eigener Aussage durch und durch repräsentiert – wird hauptsächlich durch architektonische Merkmale bestimmt: Linien, hartkantige Körper und eine sich subtil entwickelnde Variationsbreite an Schrittmustern folgen unvorhersehbar einer uhrwerkähnlichen Präzision. Arme, Beine, Köpfe und Körperteile haben den Hang, eine Art Eigenleben führen zu wollen. Als akustische Spielwiese hat Clugs langjähriger musikalischer Partner Milko Lazar mit Klavier und Schlagzeug Jazziges beigesteuert. Sobald die sich wiederholenden Moves angewinkelter Glieder gleichzeitig von zwei oder drei Tänzern ausgeführt werden, besticht das frappant. Wie Fischmäuler zusammenklappende Arme bringen ganze Reihen zum Wegkippen. Und Tänzer, die einander an Händen und Füßen halten bespielen die Bühne mühelos wie geometrische Elemente beim Blick durch ein Kaleidoskop.
Geradezu mathematisch vermag Clug jedes noch so abstrakt-surreale Treiben seiner bisweilen fast schematisiert auftretenden Protagonisten in schier unglaublichen Detailreichtum zu verwandeln. Seinen Titel erhielt „Handman“ per Zufall, weil einer der Tänzer in einer Probe scherzhaft die Hand eines anderen zu verspeisen vorgab. Überraschend schnappen daher zum Schluss zwei haifischmaulartig spitz gefaltete Ellenbogen dem Gegenüber die Hand weg. Da wird aus motorischem Spiel sarkastischer Ernst. Im Hintergrund pulsieren und vibrieren auf einem sich leicht bewegenden dünnen Stoff Muster aus Schatten und Licht (Tom Visser). Man kann damit Lichtbrechungen auf Wasserflächen assoziieren. Fantastisch irreal spinnt in der dramaturgischen Verklammerung des Dreiteilers Clug etwas weiter, das Montero zuvor zum Hauptthema gemacht hat.
„Abtauchen“ mit Goyo Montero
Montero lässt tanzen, was ihn bewegt. Kreation für Kreation. Doch nie war sein inhaltlicher Ausgangspunkt so konkret autobiografisch wie bei „Submerge“. Das abstrakte Stück liefert, was sein Titel – übersetzt: „(Unter)tauchen“ – verspricht. Es visualisiert das Ein- und Untertauchen in ein dem Menschen lebensfremdes Element: das tiefe Wasser, die hohe und Felsen zu Höhlen unterspülende See. Passagenweise meint man, dem Wogen nasser Materie regelrecht zuzusehen. Kollektives bodennahes Tanzen erinnert an das Auf und Ab von Wellen. Kraftvolle Tänzerlinien prallen gegeneinander, schieben sich ineinander, staffeln oder zerlegen sich. Die Dynamik verschiedener Bewegungsabfolgen erzeugt im Unisono die optische Wirkung von Strömungen und Strudeln. Duos und Trios finden sich, Partnerschaften lösen und wechseln sich ab. Mitten durch eine straffe Formation purzelt ein sich in der Luft akrobatisch überschlagender Tänzer.
Die anfangs sphärisch flirrende, dann in einem klanglichen Mix unterschiedlicher Zeit- oder Befindlichkeitsstufen durchlaufende Musik hat der Kanadier Owen Belton gewohnt passgenau komponiert. Sein Sound vermittelt einerseits das Gefühl von Weite und Ruhe, andererseits pushende Beunruhigung. Augenblicke von ausgelassenem Übermut oder ein langsames Sich-Treiben-Lassen der Tänzer durchbrechen großflächig kontrollierte, gemeinsam in bestimmte Richtungen driftende Konzentriertheit. Paare ringen miteinander. Einzelne Individuen werden für solistische Momente aus einer dahinrauschenden Ensembleeinheit herausgelöst, die im Stückverlauf auch mal mittels zweier gegenläufiger Gruppen oder kanonartig aufgelockert an einem Platz verharrend gewaltig Eindruck macht.
Monteros Motivationstreiber war ein Trip quer durch unterschiedliche Seelenzustände im Verlauf eines Tauchkurses, sein innerer Kampf mit dem Ich zwischen Angst und Faszination. Entstanden ist die Arbeit bereits 2018 für und mit elf Tänzerinnen und Tänzern der Junior Company Zürich. Nun eröffnete „Submerge“ den furios getanzten Abend „Naharin/Clug/Montero“ – in einer auf 19 Mitglieder des Staatstheater Nürnberg Balletts erweiterten, sowie in den Formationen und interaktiven Konstellationen komplexeren Version. Unaufdringliche Leitfigur dabei bleibt bis zum Schluss eine weibliche Protagonistin.
Nebel hängt im Raum. Die Bühne scheint leer. Dann aber schälen sich Körper aus matter Finsternis – im Hintergrund aufgereiht wie unregelmäßige Perlen an einer Schnur. Nacheinander rennen sie vor an die am Boden beleuchtete Rampe. Wiederholt verschluckt Dunkelheit die Gruppe in ihren Neoprenoutfits mit herausgearbeiteten Nähten (Kostüme: Goyo Montero, Maude Vuillieumer). Das Besondere am optisch starken Eindruck ist, dass dieses Mal nicht Montero selbst – wie sonst meist – die Lichtstimmungen eingerichtet hat. Für die blauschwarze Atmosphäre eines für die Tänzerinnen und Tänzer neu zu erforschenden Meerambientes wurde mit Martin Gebhardt ein findiger Beleuchtungskünstler mit ins Boot geholt. Ihm genügten einfache Kniffe für tollste Effekte. Eine Qualität, die die gesamte Vorstellung auszeichnete.
Nürnberger Ballett: „Naharin/Clug/Montero“; Premiere am 23. April 2022 im Staatstheater Nürnberg. Nächste Vorstellungen am 27., 29. Mai, 3. Juni, 3. und 7. Juli