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Bright Red01„Bright Red“ heißt das 1994 erschienene Album der amerikanischen Avantgarde-Ikone Laurie Anderson, die den Tod ihres Vaters empfand wie das Verbrennen einer ganzen Bibliothek. Das inspirierte den Wiener Choreografen Nikolaus Adler zu seinem gleichnamigen, brillanten Tanzstück. Hier werden Bücher in Bewegung geschrieben, sind Metapher für die Individualität des Menschen.

Die Leuchtstofflampen links scheinen in einer Kettenreaktion am Kippen zu sein. Vorn, an der Tribüne, da, wo wir sind, steht die erste noch gerade. Aufrecht in ihrer Gewissheit. Doch je weiter im Bühnenraum, umso mehr berichten sie von ihren aufgeweichten Fundamenten. Rechts platzierte die Szenografin Sophie Eidenberger einen leuchtenden Einzelgänger. Gerade. Zwei schwarze, schwere Monolithen ruhen hinten fest an ihrem Ort auf dem weißen Bühnenboden, der vorbereitet wie das weiße Blatt Papier erwartet, beschrieben zu werden. Jeder schreibt in sein Buch und in das der Menschen, die er in seinem Leben berührt. Der Hintergrund ist noch schwarz. Unbekannt, uns nicht bewusst.Bright Red04

Der Tänzer liest aus einem chinesischen Buch vor. Ein Benzinkanister wird hinten abgestellt und steht fortan wie eine verdrängte (Be-)Drohung auf der Bühne. Wie im Zeitraffer eilen die sechs TänzerInnen Laura Fischer, Katharina Illnar, Lea Karnutsch, Eva-Maria Schaller, Alberto Cissello und Xianghui Zeng in ständigem Auf und Ab über die Bühne. Von Begegnung zu Begegnung, auch mit sich selbst. Die Persönlichkeiten der sechs werden nicht verborgen hinter tänzerischem Standard-Material. Sie zeigen sich mit freier Geste. Wenn sie sich begegnen, zu zweit, zu dritt oder in noch größeren Konstellationen, nah beeinander, auch sich berührend, oder distanzierter, re-agieren sie hochsensibel auf die PartnerInnen. 

Bright Red03Episodenhaft wie unser Leben lässt Adler die Begegnungen in- und auseinander fließen, kreiert komplexe, vielschichtige Bilder, die nur kurz in eine Sichtbarkeit fluktuieren wie Energie, die für einen Moment zu Materie wird, um gleich wieder zu zerfallen. Sie zeigen in Momentaufnahmen Kommunikation, das Sperren des Anderen und das sich Öffnen ihm gegenüber. In vielen kurzen Intermezzi, Sekunden lang nur treffen sich die Menschen, sprechen sie von Wahrnehmung, Verständnis, Akzeptanz und Resonanz, von Vorsicht, Abtasten, Heranlassen und Einlassen, von Kampf und Konflikt, Harmonie und Liebe, Interesse und Neugier, Ablehnung und Anziehung, von Rationalität und Emotionalität, von Getrenntsein und tiefer Verbindung, von Bereicherung und gemeinsamem Wachstum. Schwerelos gleiten sie über den Boden, schreiben mit ihrem geschmeidigen Tanz ihre Emotionen in den Raum. 

Die herausragenden tänzerischen Qualitäten eines jeden Einzelnen, ihre Authentizität sowie ihre persönliche und künstlerische Reife, die sie in ihrem selbst eingebrachten, vom Choreografen mit viel Einfühlungsvermögen strukturierten, mit großer Präzision präsentierten Material erahnen lassen, beeindrucken und berühren zugleich. Bright Red05

Die Kostüme von Sophie Eidenberger, schwarz, mit individuellem Schnitt und ungewöhnlich positionierten Reißverschlüssen, teils geöffnet, teils gar nicht verschließbar, reden wie eine ins Außen gestellte, fein analysierte Persönlichkeitsstruktur von offenen, schwerer zugänglichen und verschlossenen Aspekten einer Psyche.

Bright Red06Der elektronische Sound (musikalische Beratung: Wolfgang Urban) wird nur einmal gebrochen. Die Musik von Vivaldi überrascht anfangs. Mit dem Tanz in barocken Linien, die von zeitgenössischen Moves durchkreuzt werden, weist Adler jedoch auf tief in uns eingegrabene Erfahrungen, insbesondere auf das Wissen und das kollektiv Unbewusste von Tänzer*innen. Gleichzeitig verweist er damit auf die Bindung zwischen den Zeiten und das gegenseitige Durchdringen von Tradition und Moderne. 

Der schwarze Vorhang hinten fällt. Eine weiße Leinwand erscheint nun in der Tiefe der Bühne. Wie die unbewussten Tiefen unserer Seele, die sich befreit hat aus der Enge externer Prägungen und gereinigt offen ist für neue, eigene, selbst verantwortete Kapitel im Buch des Lebens.Bright Red07

Das Schlussbild ist ein Ein- und Mehrdeutiges. Den Schicksalen gedruckter wie lebender Bücher, die gewaltsam oder freiwillig ein jähes Ende erfahren, verbrannt, getötet von Entmenschten, Verblendeten oder von jenen Autoren, die selbst das letzte Kapitel ihrer Geschichte schreiben, setzt Nikolaus Adler ein mahnendes Denkmal. Katharina Illnar leert den Inhalt im Benzinkanister über sich aus. Und hinten auf der Leinwand lesen wir in schwarzen Lettern BRIGHT RED. Als ob die Flammen des leidenschaftlichen, endlosen Erfahrens seiner selbst hellrot lodern. Ihnen widmet Nikolaus Adler dieses berührende Tanzstück.

„Bright Red“ von Nikolaus Adler am 30. April 2022 im WUK Wien. Weitere Termine: 6. und 7. Mai.