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Ingvartsen1Und sie dreht sich doch! Noch immer! Ja, auch die Corona-Pandemie hat die Welt nicht zum Stillstand gebracht. Historische Mechanismen der Trauma-Bewältigung, Geschichts-Betrachtung und teils ekstatischen Tanz rührt Mette Ingvartsen in ihrer im September 2021 in Essen uraufgeführten Arbeit „The Dancing Public“ an zu einem berauschenden Party-Cocktail. Mit beigemischter subtiler Botschaft.

Endlich wieder Party! In dunkler, nebliger Halle, mit lauter Musik und vielen demaskierten Menschen. Zahlreich sind sie erschienen zu dieser österreichischen Erstaufführung, um ein weiteres Solo der weltweit renommierten und regelmäßig in Wien (TQW, ImPulsTanz) performenden dänischen Choreografin und Tänzerin zu genießen. Denn ein Genuss sind ihre Arbeiten immer, weil sie auf hoher rationaler und sinnlicher Ebene ihr Publikum anspricht.

Die Corona-Pandemie ist nicht die erste globale Herausforderung, mit der die Menschheit konfrontiert wurde, und sie wird nicht die letzte sein. Um zu dieser Erkenntnis und zu möglichen Lehren aus der Geschichte der Menschheit zu gelangen braucht es nicht zwingend einen Doktor-Grad, wie ihn Mette Ingvartsen inzwischen erworben hat. Aus dem Gefangensein im Jetzt herauszutreten und den Blick zu weiten ist ein allgemein zwar bekanntes, doch längst nicht in dieser Breite angewandtes Rezept zur Annäherung an Realitäten. Ingvartsen klagt und jammert nicht. Sie hebt den Kopf aus dem trüben Dunst der eigenen bewussten und unbewussten Überzeugungen von sich selbst und der Welt. Sie misst ihnen entscheidende Bedeutung für die Betrachtung und Bewertung einer Situation bei.

Daraus entwickelte sie ein Konzept für eine Performance, deren Differenziertheit zwischen hochenergetischem Tanz, den sie partiell in Ekstase und tranceartige Zustände, dann wieder in Erschöpfung und kontemplative Phasen führt, eine durchgehend hohe Spannung hält. Ihr Tanz, ihre gesprochenen und gesungenen Texte, das Licht der Leuchtstofflampen-Säulen und Deckenstrahler (Minna Tiikkainen) und das Sound-Arrangement (Mette Ingvartsen, Anne van de Star) balancieren den Wechsel von Stimmungen und Gefühlslagen flüssig durch die knappe Stunde.Ingvartsen2

Den Verlauf der Dynamiken erlebt das den Saal frei bevölkernde Publikum hautnah. Wenn sie in der Menge Einzelne, die sich eh schon durch ihr Grooven empfehlen, antanzt, steigt das Energieniveau nochmals. Sich auf die drei kleinen Bühnen an den Seiten zurückziehend, auf denen sie tanzt, hockt oder liegt, bring zusätzliche Bewegung in ihre verbale und körperliche Erzählung von Vergangenem und ihre Beschwörung der Gegenwart. Ihre Aktion dekoriert ihren Text, der durch die Geschichte in die Zukunft und durch den Abend führt. 

Ingvartsen3Die Erinnerung an kollektiv und individuell traumatisierende Ereignisse wie die Pest im Jahre 1374, als ganze Städte geschlossen wurden und Hunger, Angst und Tod den Alltag der Menschen bestimmten und Tanz-Maniacs wie Heiler durch die Lande reisten, die Tänze hielten Tage und Tage an, oder im Mittelalter, als „vom Teufel besessene“ Tänzer nur noch durch Heilige geheilt werden konnten, oder 1518, als eine junge Frau ihr eben geborenes Kind, das zu füttern sie bald nicht mehr in der Lage war, ertränkte und danach zu tanzen begann, 50 sich ihr anschlossen im Laufe der Nacht, 400 waren es drei Wochen später, und die Regierung kein Mittel fand gegen diesen nicht stoppbaren Tanz, und Mette auf der Bühne aus den Konvulsionen scheinbar selbst in den Wahnsinn fällt, und sie bald mit heraushängender Zunge in ihrem Rap-Song hechelt: „Wenn alles schlimmer wird, kann es nur noch brechen!“, das rote Licht pulsiert im Raum. Oder 1930, als die Rezession die Menschen erschöpfte und diese Wochen lang tanzten, wenn sie von crowdy motion, burning pain, scream of extasy und loss of control singt, und vom sound of feet, standing and grounding und von emotional repair und wilder Techno mit dem Strobo-Licht die Sinne bedröhnt, ist man gefangen. Auch von ihrer wahrlich beeindruckenden Präsenz und Energie. Sie tanzt ab, hinten in der Ecke. Die Party aber, die geht weiter ...

Mette Ingvartsen sieht. Sie führt in „The Dancing Public“ wesentliche Ursachen für den Zustand der Menschen in der pandemiegebeutelten Gesellschaft sowie für die Rezeption dieses Zustandes auf. Dieses Stück ist ein Appell. Ein Aufruf, sich durch Tanz, durch physische Öffnung zu befreien von emotionalen Barrieren und Fixierungen, die einem die Wahrnehmung verschleiern und das Denken vernebeln. Und dann, mit klarem Blick und angewandter (historischer) Wissenschaft, bleibt nichts als Hoffnung, Zuversicht und letztlich die Gewissheit, dass das Leben weiter geht! Und dass Tanzen heilt.

„The Dancing Public“ von Mette Ingvartsen am 29. April 2022 im Tanzquartier Wien