Es war eine musikalische Verzauberung, die das Publikum bei der Ballettpremiere des Wiener Staatsballets umfing. Unter der Leitung von Adam Fischer füllten die Sopranistin Slávka Zámečníková, der Tenor Josh Lovell und der Bass Martin Häßler, das Orchester und der Chor der Wiener Staatsoper das Haus mit Joseph Haydns wundersamen Klängen. Martin Schläpfers Choreografie„Die Jahreszeiten“ setzt dem deskriptiven Text des Librettos markante visuelle Kontrapunkte entgegen und verstärkt das musikalische Erlebnis.
Wenn hier in erster Linie von der Musik und erst an zweiter Stelle vom Tanz die Rede ist, soll das die künstlerische Arbeit des Wiener Ballettchefs keineswegs abwerten. Vielmehr ist sein musikalischer Zugang das prägendste Merkmal seiner Choreografie. Schläpfer vertritt keinen bestimmten Bewegungsstil. Da folgt auf einen perfekten neoklassischen Pas de deux eine Szene, die Anleihen am Ausdruckstanz nimmt. Da wirkt der Grahamsche Beinschwung beschleunigend. Wenig später defilieren die Tänzer*innen à la Pina Bausch in einer Linie über die Bühne. Oder sie machen ihren Auftritt mit Froschhüpfern und kugeln übereinander her. Schläpfer integriert in seinen Bewegungsduktus das ganze 20. Jahrhundert und wenn die Tänzerinnen auf den Rücken ihrer Partner spazieren, findet man sogar eine Shiatsu-Technik wieder. In der gestischen Umsetzung einiger Rezitative gibt es Anleihen aus der Gebärdensprache.
Schläpfers choreografische Originalität resultiert aus seinem musikalischen Verständnis. Die Zeiten, in denen der Choreograf dem Komponisten das Metrum vorgeschrieben hat, wie es etwa bei Petipa und Tschaikowski der Fall war, sind längst Geschichte. Zeitgenössische Choreografen haben selten das Privileg einer Originalkomposition, sieht man einmal von elektronischen Soundcollagen ab. Doch neue Orchesterwerke für ein Ballett sind eine rare Ausnahme. Also sind Choreografen aufgefordert auf bestehende Musik zurückzugreifen, die meistens nicht für Ballett geschrieben wurde. Einige wie George Balanchine setzen die Musik direkt in Bewegung um, andere, wie John Neumeier, entwickeln dabei ein Narrativ. Dann gibt es auch noch jene, die die Musik weitgehend ignorieren, wie zum Beispiel Markus Goecke bei der letzten Ballettpremiere an der Wiener Staatsoper. Martin Schläpfer hingegen sucht seinen eigenen Ansatz und verfolgt ihn mit einem Sammelsurium an Bewegungen vor dem Hintergrund des klassisch-akademischen Tanzes.
Der Wunsch, dies mit Haydns Oratorium zu versuchen, geht auf die Anfänge seiner choreografischen Karriere in den 1990er Jahren zurück. Nun machte er ihn in Wien wahr und es scheint, also ob das tänzerische Material die ganzen Jahre in ihm geschlummert, entwickelt und geformt hätte, um sich nun endlich zu manifestieren. Der Tanz kommt so leicht, so selbstverständlich daher, als liege dahinter keine Absicht, keine Intention, keine Zielsetzung, ja nicht einmal eine Richtung. Und dennoch ist jeder Schritt, jede Geste mit Nachdruck konzipiert und umgesetzt.
Das Libretto des 1801 uraufgeführte Werkes stammt von Gottfried van Swieten auf Grundlage des Gedichtes „The Seasons“ von James Thomson. Der deskriptive Text beschreibt verklärend das Verhältnis von Mensch und Natur. Die heiteren bis an die Grenze der Naivität reichenden Verse sind weder religiös geprägt noch reflektieren sie den Geist der Aufklärung. Dass „Die Jahrezeiten“ bei seiner Uraufführung zwar durchaus positiv aufgenommen wurde, aber hinter dem Erfolg von Haydns „Die Schöpfung“ zurückblieb, wird vor allem dem Text und nicht der Musik zugeschrieben. Sie ist mit ihren Arien, Cavatinen, Rezitativen und Chören von einer unerhörten Schönheit und Eindringlichkeit.
Schläpfer lässt sich von ihr weder treiben noch widersetzt er sich der Musik, sondern spinnt seine eigenen Assoziationen, die einmal vom Rhythmus oder der Melodie, ein anderes Mal vom Text ausgelöst werden. Selten wird die Handlung auf der Bühne konkret, dafür gibt er Raum für den Musikgenuss, belässt die Bühne stellenweise frei, verlagert das Geschehen an den Bühnenrand.
Mylla Ek sorgte für eine stimmige Ausstattung. Metallplatten schweben über der Bühne, die diffus das Geschehen widerspiegeln. Schleier wie Gespinste eröffnen die Bilder des Frühlings und des Winters. Die Kostüme für das Ensemble in kräftigem Rot – jedes mit einem anderen Schnitt – werden im ersten Teil "Frühling, Sommer & Herbst" von kontrastierenden Farbtupfern gebrochen. Thomas Dieck hat diese bunten Tableaus stimmig ausgeleuchtet. Lichtbahnen aus den Gassen fallen auf den grauen Boden und geben dem Ballett einen hellen Charakter und malen Farbkompositionen auf die schwebenden Skulpturen. Nach der Pause verdunkelt sich die Stimmung für den "Winter".
Das Ensemble des Wiener Staatsballetts (an der Staatsoper und an der Volksoper) ist mit Schläpfers erratischer Mischung mittlerweile bestens vertraut. Hauptrollen sind schwer auszumachen, Hierarchien aufgehoben, viele haben hier immer wieder kleine, individuelle Auftritte. Zwar sind die Gesangssolist*innen des Oratoriums, Hanne, Lukas und Simon, den Tänzer*innen Hyo-Jung Kang, Marcos Menho und Davide Dato zugeordnet. Doch auch wenn sie sich in den Kostümen vom Rest des Ensembles unterscheiden und ihre Soli, Duette und Trios prominent eingesetzt sind, ist diese Zuschreibung fließend, gehen die „Rollen“ immer wieder auf andere Tänzer*innen über. Sucht man ein wiederkehrendes Motiv in dieser Choreografie, dann ist es der gestreckte Zeigefinger, der die Richtung zu suchen scheint. Eingeführt bei einem Solo von Marcos Menha zur Cavatina in "Der Sommer", wird am Ende des Winters das gesamte Ensemble in allen Himmelsrichtungen deuten.
Wieder erweist sich Martin Schläpfer als Choreograf des Unbestimmten und des Unbestimmbaren. Und damit schafft er mit Haydns Werk eine Einheit von Musik und Tanz, in der beide Künste ihre Eigenständigkeit bewahren. Nach drei kurzweiligen Stunden war das Anlass für das Publikum zu jubeln wie schon lange nicht mehr!
Wiener Staatsballett: „Die Jahreszeiten“ von Martin Schläpfer. Uraufführung am 20. April 2022 an der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 5., 7., 10., 13., 17., 25. Mai.