Der 1974 in Lausanne geborene Schweizer James Thierrée, Akrobat, Musiker, (Film-) Schauspieler, Tänzer und Regisseur, wird auf seinen Großvater Charlie Chaplin nur ungern angesprochen. Und doch sind dessen Gene und die seiner Eltern, beide Zirkus-Künstler und -Betreiber, in seinen Arbeiten unverkennbar. Sein im Jänner 2022 uraufgeführtes Stück „Room“ begeisterte in dieser Österreich-Premiere das Festspielhaus-Publikum in St. Pölten.
Der inhaltliche, dramaturgische und doch nur imaginäre Rahmen von „Room“ ist Thierrées Suche nach Konzept und Umsetzung für ein Bühnen-Stück. Was für ein Stück eigentlich? Das Telefon klingelt immer wieder, ein in seiner Rolle, seiner Bedeutung und seinem Ziel unbekannt bleibendes Outside Eye (vielleicht auch das Publikum?, „Chasing you, chasing us“ sagt er einmal) scheint seine Meinung, bis auf den letzten Call keine gute, über den performten Vorschlag von eben kund zu tun. Ok. Nächste Idee. Nächster Versuch. Der Titel gebende „Room“ wird im doppelten Sinne zum Spielort. Die Bühne als gestalterisches Laboratorium und das Universum als der Raum von unendlich vielen, nicht nur physischen Möglichkeiten.
Daraus entwickelt Thierrée ein fulminantes, alle Konventionen sprengendes Bühnen-Spektakel. Wie sein Leben, das von frühester Kindheit an vom elterlichen Zirkus-Alltag (er trat mit vier Jahren erstmals auf) mit Touren, Auf-, Um- und Abbau bestimmt war. Seine schon in jungen Jahren erwachte Faszination für die Theater-Maschienerie, für die mit allen Sinnen genossene Bühne („Ich könnte mir ein Bett auf sie stellen und wäre glücklich!“) prägen sein Bühnen- und sein Kostümbild für „Room“. Der Bühnen-Room wird zu einem riesigen lebenden Organismus, wandelt amöbengleich seine Gestalt(ung). Die Choreografie der Requisiten gleicht einem atemlosen Streben hin zur nächsten Möglichkeit, vom „Heiligen Geist des Raumes“, den Thierrée in einer Szene vorstellt, gesegnet.
Er stellt den Room auf den Kopf, dreht das Innere nach außen, hält die Perspektiven in ständigem Fluss, schafft wie im Delirium surreale Bilder und Situationen. Heilloses Chaos. Schier grenzenlose Fantasie, infantil-vergnügtes (und äußerst vergnügliches) Versuchen und Ausprobieren. Auch das Stück „Room“ selbst ist eine Arbeit im ständigen Entstehen. Immer gibt es noch andere Ideen, so dass sich auch die Shows nie gleichen.
Thierrée mischt die Künste Musik, Gesang, Artistik, Theater, Tanz und Performance mit Klamauk, Witz, Slapstick, Humor und vielen Sprachen als Bindemittel. Auch innerhalb der Kunstgattungen mixt er Stile und Zeiten. Klassischer Gesang trifft auf Chanson und Sprache, Electric Dance auf klassische und zeitgenössische Moves, Kammermusik wird vom Rock und Blues gebrochen.
Und doch hat James Thierrée ein Ziel: Er will die Dinge ausprobieren, „bis sie sich gut anfühlen“. Es geht nicht um Perfektion, sondern um maximal möglichen Selbstausdruck. Die Räume dafür aufzubereiten und zu öffnen gelingt ihm mit seinem PerformerInnen-Team meisterlich. Die insgesamt elf, allesamt wie Thierrée multitalentiert, musizieren, singen, tanzen, performen akrobatisch und theatralisch und erbringen eine Ensemble-Leistung von außergewöhnlicher Komplexität. Und immer bestimmt Sinnlichkeit die Kommunikation- und die Erfahrungssebene.
Und wenn der neurotische Regisseur seine eigenen Befindlichkeiten auf sein Gegenüber projiziert, wenn ihm seine Mutter als intrapsychische Instanz erscheint mit ihrem „Ich bin Du.“ und ihm „I'm rising by digging!“ entfährt, wenn er nach dem komischen Termin beim Therapeuten erfolglos versucht, sich's auf einem Sofa gemütlich zu machen, sein Körper sperrt sich gegen jeden bürgerlichen Müßiggang, und er danach die Konfusion, das Suchen auf brillante Weise tanzt, erreicht das Stück im Besonderen den Tiefgang, den es im Allgemeinen längst schon präsentierte.
Nichts ist ihm heilig. Alles wird nach kurzer Zeit zerstört, um daraus Neues, Überraschendes, Ungeahntes und Unerwartetes entstehen zu lassen. All das keimt manchmal nur zu einer Ahnung, die im Strudel des Geschehens weiter nicht erblühen darf, hinfortgerissen von der Wucht des nächsten kreativen Impulses. Die Szenen werden wie Zeitscheiben, kurze Blicke mitten hinein in etwas viel Größeres präsentiert. Nie gibt es wirklich einen Anfang, nie ein Ende.
„Room“ ist eine berauschende Feier des Wandels, des Möglichen und des Großen Einen, das sich in unendlich vielen Variationen und Individuationen erfährt. Seine kindliche Freude am Erschaffen und Zerstören, seine so lebendige Neugier am Erforschen des Möglichen, seine Ehrfurcht vor der Magie der Kreation und seine Passion für das Entstehenlassen von Imaginations-Räumen sendet James Thierrée mit selten erlebter Leidenschaft und Authentizität in das Publikum, das am Ende, euphorisiert und mit stehenden Ovationen eine herausragende Kompanie feiernd, sogar noch eine Zugabe genießen durfte. Und sich nach fast zwei Stunden ohne Pause beim Blick auf die Uhr erstaunt die Augen rieb ...
Das Werk ist zutiefst demokratisch ob des hierarchiefreien Neben- und Miteinanders der Künste. Es ist eine beglückende Utopie von einer imperfekten, aber freien Gesellschaft, die das Werden und Vergehen als das Grundprinzip alles Lebendigen und jede Möglichkeit als partiellen Ausdruck des Einen feiert.
„Room“ von James Thierrée am 22. April 2022 im Festspielhaus St. Pölten.