„An embodied encyclopedia of the now“ untertitelt die österreichische Choreografin, Tänzerin und Performerin Karin Pauer diesen vierten Teil ihres Zyklus „dances of the anthropocene“, „der unser anthropozentrisches Weltbild herausfordert, untersucht und gleichzeitig versucht, verkörperte Praktiken der Empathie und der Fürsorge zu entwickeln.
Die Vögel zwitschern. Nicht lang. Auch Bienen summen noch und Wasser hört man plätschern. Bevor Paolo Monti / the starpillow seine Gitarre zupft, schlägt und mit dem Bogen streicht, die Klänge loopt und layert und damit krachend-ächzend oder harmonisch-flächig ins Gespräch einsteigt. In das mit den vier TänzerInnen Anna Biczok, Arttu Palmio, Hugo Le Brigand und Karin Pauer, mit den zu Knäueln und einer langen Wurst gebundenen sechs Steppdecken, die liegen, stehen, hängen. Und mit dem Text.
Karin Pauer sammelte seit Jahren Gedanken und Ideen und formte einerseits aus poetischen Schnipseln ein auch im Programm-Zettel abgedrucktes Gedicht, andererseits eine Schlagwort-Enzyklopädie des Seins. „Air, Bacteria, Bees, Care, Clouds, Coral Reefs, Empathy, Envy, Farming, Feminism, Mountains, Nuclear Waste, Plastic, Power, Rivers, Shame, Stormes, Survival, Rage, Tenderness, Toxins Trees, Viruses, We, Weapons ...“. Worte, die, sobald sie auf den zwei Leinwänden an den Längs-Enden des langgestreckten Bühnenraumes erscheinen, von den vier PerformerInnen in Bewegung übersetzt werden. Ihr in Physis transformiertes Alphabet von Aspekten einer hochkomplexen Welt, eines Stichwort-Reigens von Diversität und Divergenz, gelingt zu einer Demonstration tänzerischen Vermögens, ausdrucksstark und, im Zusammenspiel mit dem Sound, zeitweise von erstaunlicher emotionaler Wirkung. Und sie zeigen: Wir sind alles. Und alle.
Der Text wird zum dramaturgisch führenden Element in dieser Arbeit, ein semantischer Leitfaden für physische Metamorphosen. Ebenso ver-wandeln sich die Objekte, von Maureen Kaegi gestaltet aus sechs Steppdecken. Hybride Co-Performer, Sinnbilder für Unbekanntes, Abgelehntes, Ignoriertes, als von uns getrennt Empfundenes oder mit uns Verschmelzendes. Als auf den Kopf gesetzte wüst-knotige Bündel mögen sie stehen für ratio-gesteuerte, sich ihrer selbst und ihrer menschlichen wie natürlichen Umwelt entfremdete Wesen.
Hugo le Brigand balanciert sitzend eine zu einer langen Rolle verschnürte Decke auf dem Kopf, wie ein Gleichgewicht der Kräfte suchend, bevor diese Rolle und damit diese Eintracht von drei PerformerInnen wie in einer Prozession zu Grabe getragen wird. Die Welt kann sich nicht mehr schützen vor uns. Die ent-wickelten Decken türmen sie zu Bergen, einzeln und in gebirgiger Gruppe. Auch hier das Ich und das Wir. Sie dienen ausgebreitet als schützendes Verdeck, das, schließlich abgezogen, am Boden kauernde verletzte, gebrochene Wesen freigibt. Auch der Krieg spricht hinein mit krachenden Salven.
Landschaften, Klänge und Körper interagieren und verbinden sich, Grenzen verschwimmen, Verwandlungen legen Gemeinsames im Einzelnen, Universelles frei. Die Reduziertheit und dennoch Komplexität der Bilder ist beeindruckend. Sie spielen mit mannigfaltigen Metaphoriken, die, liest man sie mit dem Emotio, die seitens der Choreografin tief empfundene Dringlichkeit spüren lassen. Die nur kurz aufflackernde Hoffnung, die gegenseitige Ermutigung und Tröstung in der Gruppe, das empathische Miteinander können das Apokalyptische dieser Arbeit, ihre tiefe Traurigkeit nicht lindern. Im Gegenteil.
Karin Pauers Zyklus „dances of the anthropocene“ und hier dessen vierte und letzte Performance „we were never one“ entstand aus Betroffenheit, geradezu Verzweiflung über den Zustand unserer Welt. Und, und vor allem, über dessen Ursachen. Nicht nur die Zerstörung des Planeten, der Heimat der Menschheit und aller belebten und unbelebten Natur, mithin auch die Zerrüttung der menschlichen Gemeinschaft(en), vom individuellen bis ins Gesellschaftlich-Globale reichend, thematisiert diese Arbeit. Karin Pauer beschreibt nicht nur Zustände, sie analysiert deren Hintergründe und Wurzeln. Diese findet sie in der Titel gebenden und der im Schlussbild, die Decken wurden zu hängenden Wänden, deutlich gezeigten Getrenntheit des Menschen von sich selbst und von allem. Richtiger noch, dass dieses Getrenntsein ein individuell empfundenes ist. Und somit weist Karin Pauer mit „we were never one“ einen Weg. Einen der Heilung für eine im Außen so zerstörerisch wirkende, gesellschaftlich-ideologisch tief verwurzelte Egozentrik. Empathie und gesteigert ein „Wir sind alle Eins“ als neue Werte auf neuen Tafeln. Das Vogel-Gezwitscher und leises Hunde-Gebell, hier schließt der Sound den Kreis und legt eine akustische Decke über das menschliche Tun und So-Sein, verebben am Ende. „Radical hope“.
Karin Pauer „We were never one“ von Karin Pauer am 12. April 2022 im brut Wien