Bei „Oasis de la impunidad (Oase der Straffreiheit)“ – eine schockierend-fabelhafte Untersuchung zu den Ursprüngen und Mechanismen von Gewalt – sind die Szenen leicht zu lesen. Zumindest auf den ersten Blick. Zum Schluss wird klar, dass man von Anfang an ein Teil der schaurig-brillanten Inszenierung war.
Als quasi unbeteiligter Zuschauer, der sich noch mit seinem Nachbarn unterhält, während auf der Bühne längst Leute in dunklen Kapuzenjacken akribisch jeden Fleck und Fingerabdruck vom Bühnenboden und einer riesigen Vitrine schrubben.
Das große Reinemachen wird sich wohl an jedem Auftrittsort nach solchen eineinhalb Stunden voller fantastischen, bisweilen fulminant karnevalesken bzw. geradezu geisterbahntauglichen Spieltriebs wiederholen. Ausgangspunkt war ein Theaterlabor mit 500 Menschen, die in Chile Verletzungen durch Sicherheitskräfte erfahren haben. Münchner Kammerspiele und Berliner Schaubühne sind die Koproduzenten.
In einer der letzten Nummern von „Oasis de la impunidad“ („Oase der Straffreiheit“) wird ein unter den Tanzteppich gekehrter Lebloser nach allerlei grotesker Gruppenfolterei unter einem gigantischen Geistergemälde verschämt wie ein kaputtgegangenes Spielzeug aus dem öffentlichen Bewusstsein geräumt. Nicht minder schockierend: eine Frau, die ihre Gefühle nicht im Griff hat, zieht man per Tötung aus dem Verkehr und legt ihre entkleidete Leiche für alle sichtbar mitten in einer der Zuschauerreihen ab. Und das über das Ende der Vorstellung hinaus.
Bilder wie diese schmerzen. Sie tun aber nicht verletzend weh – dank der Protagonisten, die das Ganze körperlich uneindeutig mit in verschiedene Richtungen geknickten Arm- und Handgelenken verpacken. Ihr Bewegungsstil ist seltsam ungelenk-ruckelnd. Das ist ein wichtiger Coup des Stücks. Daneben sticht noch ins Auge, dass uns die acht tollen chilenischen Interpreten in ihren blauen Badeanzügen, blauen Schulmädchenuniformen und mit ihren überlangen Ohren eine Art abstrus-unschuldigen Elfenkosmos vorgaukeln. Das beamt einen kurios quer durch ein Gewaltuniversum irrationaler Übergriffigkeiten – inklusive eines Panoptikums an Selbstquälereien. Opfer und Täter, Spaß und Unrecht werden sich dabei immer ähnlicher und sind am Ende ununterscheidbar.
Wo Unrecht nicht geahndet und Emotionen wie Trauer um einen geliebten Menschen wortwörtlich erstickt wird, verlieren Worte und Schreien an Kraft. Nur der stoisch bewegungsarm unter Glas ausgestellte Schauspieler Walter Hess kann – ganz im Sinn eines religiös überhöhten Exponats – zeremoniell angebetet werden. Leid oder Freude, Stolz oder Angst graben sich dagegen in die Körper der anderen Auftretenden ein. Diese krampfen, zucken und beben – lachgebeutelt oder durch die Heftigkeit eines Heulanfalls. Schon extrem, das mitanzusehen.
Gleich zu Beginn des Stücks wird man Zeuge eines Meisterstücks an darstellerisch auf das Beste ausgelebter Doppeldeutigkeit. Es ist Nacht in einem Museum. Da tritt ein Wachmann mit Taschenlampe auf. Er platziert sich einem fiesen Schachtelteufel gleich an der Rampe und nimmt einen tiefen Zug aus der – an diesem Ort – eigentlich verbotenen Zigarette. Was er uns frei heraus bzw. unter dem Mantel der Verschwiegenheit zu sagen hat, dröhnt gedämpft in eloquentem Spanisch aus dem Off. Noch so eine Marotte, die systematisch perfekt ausgespielt wird. Sogar Walter Hess spricht seinen deutschen Part subtil verzerrt als Playback.
Die jeweiligen Übersetzungen (deutsch/englisch) dieser wenigen textbasierten Passagen dienen dem Verständnis nur scheinbar. Tatsächlich lenken sie von der der Power des Visuellen und der ganz auf ein Rezipieren über das Sehen ausgerichteten Performance ab. Denn das Bühnengeschehen kippt und eskaliert oft im Kleinen. Und die darüber rauschende, leutselige Stimmung, die durch die musikakustische Kulisse verbreitet wird, manipuliert das Ohr nicht selten auf irreführende Weise. Zudem sind die Künstler in ihrer comichaften Überspitzung ausdrucks- und bewegungsmäßig dermaßen gut, dass man einfach durchweg hingucken muss.
Ein derart provokativ-tolldreistes Potenzial hatte lange kein Stück mehr – noch dazu eines, das sich zeitnah und ziemlich konkret mit sozialen Missständen aufgrund staatlicher Unterdrückung und Gewaltausübung in einem eigentlich demokratischen Land auseinandersetzt. Der Regisseur Marco Layera und seine 2008 gegründete Kompanie La Re-sentida (auf Deutsch: die Nachtragende) wurden nun – durch die Proteste und Demonstrationen in Santiago de Chile seit 2019 und in Begleiterscheinung das Aufbrechen alter Wunden der vergangenen Pinochet-Diktatur – zu einem krassen Bewegungspanorama über Staatsgewalt motiviert.
Bravourös erobert sich das Ensemble hier ein Terrain des politischen Tanztheaters. Dermaßen deutlich radikal war in Deutschland zuletzt nur Johann Kresnik. Jetzt, wo sich alle Augen auf die Gräueltaten der Russen in der Ukraine richten, funktioniert „Oase der Straffreiheit“ in ihrer kunstvoll abstrahierenden Drastik als warnender Augenöffner. Immer wieder lässt Layera Performer splitternackt vors Publikum treten. Einer von ihnen reißt sich mit der Zange Zähne aus. Danach wird kollektiv zur Trillerpfeife trainiert. Hand in Hand tänzelt man über die Bühne, unterbrochen von gegenseitigen Würge- und Haarziehmomenten. Ist eine Person gebrochen, öffnet sie selbst der Gewalt alle Schleusen. Extrem, aber leider wahr.
Teatro La Re-sentida / Marco Layera: „Oasis de la impunidad (Oase der Straflosigkeit)“, München-Premiere am 7. April im im Schauspielhaus / Kammerspiele. (Uraufführung am 1. April an der Schaubühne Berlin.)