Urplötzlich sind wir mittendrin in einer geopolitischen Zeitenwende. Ein Übergang? Dann haben es Übergänge in sich, was auch für den neuen dreiteiligen Tanzabend „Passagen“ gelten mag, mit dem das Bayerische Staatsballett endlich wieder eine Ballettfestwoche eröffnet. Ein furioser Start mit neuen Stücken von David Dawson, Alexei Ratmansky und Marco Goecke.
Die vergangenen zwei Jahre mussten wir darauf pandemiebedingt verzichten. Nun bricht sich in schlichten Dekorationen bravourös frei – und für das handlungsballettverwöhnte Münchner Publikum in einer komplett anderen Physikalität als sonst zu erleben – eine unglaubliche Crew ausgewählter Tänzerinnen und Tänzern im zeitgenössischen Duktus dreier völlig unterschiedlicher Stile Bahn. Rein gar nichts ist davon zu spüren, dass Marco Goecke und David Dawson, die zum ersten Mal mit dem Bayerischen Staatsballett gearbeitet haben, in ihren Kreationsprozessen aufgrund von Quarantäne jeweils mehrtätige Leerphasen zu umschiffen hatten.
Uraufführung „Sweet Bones̕ Melody“ von Marco Goecke
Eine erste Ladung schwarzer Konfetti liegt schon am Boden, als die riesige Nebelschwade im Raum von einem der Tänzer durchbrochen wird. Raketengleich schießt er aus dem Hintergrund nach vorne, und der Bewegungskosmos um seine Körperachse herum explodiert regelrecht. Bald schält sich aus der Dunkelheit ein weiterer Tänzer. Mit zu Krallen gekrümmten Händen und Armen wie Säbeln wird Unheimliches untereinander ausgefochten. Dazwischen rückt man hautnah zusammen. Plötzlich fingert einer aus der Umklammerung heraus die Rückseite des anderen fast zärtlich suchend nach etwas ab.
Auf das erste lässt Marco Goecke schnell das zweite Duett folgen. Die Männer, jeden Muskel stählern angespannt, kommen zur Gruppe zusammen, ehe die erste von vier Tänzerinnen die weite Arena betritt. Lediglich der schattierte Lichtwechsel von Udo Haberland verleiht dem Ganzen eine atmosphärische Idee von Zerstörung bzw. Bedrohung. Da mögen Schwaden weißen Puders, den Frauen auf nackte männliche Oberkörper klatschen, an im Unbewussten schwelende Sorgen erinnern.
Derzeit gibt es niemanden außer Marco Goecke, der das Publikum choreografisch vom ersten bis zum letzten Stückaugenblick so irritierend krass zu beschäftigen und in seiner inhaltlich von Power nur so strotzenden Verschwommenheit derart subversiv-packend anzusprechen vermag. Seiner allerersten Kreation für das Bayerische Staatsballett mit dem Titel „Sweet Bones̕ Melody“ gelingt eine fantastische Symbiose mit der berückend aufgewühlt vom Bayerischen Staatsorchester live gespielten Orchesterkomposition „Mannequin“ der Südkoreanerin Unsuk Chin.
Das Werk, das in einer reduzierten Besetzung unter der souveränen Leitung von Tom Seligman zu Gehör gebracht wurde, basiert auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ und einer Hauptfigur, die – gefangen wie eine Marionette in einer bizarren Welt aus Ängsten und Visionen – zwischen Wahnvorstellung und Wirklichkeit hin- und hergerissen wirkt. Das klanglich üppige Fundament gibt Goecke eine perfekte Steilvorlage, dass sich elf Interpreten mit sehr individuellen Akzenten auf vollendet krude und unfassbar tiefe Art und Weise tänzerisch ausleben. Da scheint das Herz der auch mal robotrig wie ferngesteuerten Protagonisten bisweilen zu verrutschen und dann weiter im Schritt zu pochen. Immer wieder verzahnen sich einzelne Tänzerinnen und Tänzer – allesamt irgendwie In-Sich-Zerrissene. Sie ziehen ihr Gegenüber an den Wangen zu sich. Oder aber es drängt sie voneinander fort, während einer den Hals des anderen zusammenpresst. Selbst unter Höchstgeschwindigkeit sitzt hier jede Geste, jedes Wirbeln um sich selbst einfach perfekt.
Mittendrin lässt Goecke für die Zeit, die es braucht, damit der Tänzer Florian Sollfrank Else Lasker-Schülers Gedicht „Weltenende“ vortragen kann, jede Bewegung und den Klang in Stille erstarren. Deutlich zu verstehen wie sonst selten hat Goecke diesmal die einer früheren Zeit entliehenen Worte seinem ihm ureigenen Bewegungskosmos hinzugefügt.
So bringt er am Ende künstlerisch unglaublich gewieft und visuell reduziert auf fast nur Grau-Schwarz alles zuvor Gezeigte auf den gemeinsamen Nenner momentanen globalen Kriegs- und Weltschmerzes: die zu Beginn des Abends – flankiert von herrlicher Farbenpracht – von David Dawson in „Affairs of the Heart“ aufgebotene famose Schönheit tänzerischer Virtuosität und die erzählerische Verspieltheit, mit der Alexei Ratmansky im Mittelteil „Bilder einer Ausstellung“ punktet. Seltsam prallen gegen Ende Lippen für einen Kuss aufeinander und abschließend hält ein Tänzer – es ist Münchens jüngster Shootingstar aus Portugal, António Casalinho – eine weiße Taube in der Hand. Sie darf kurz aufflattern, losfliegen aber nicht. Noch nicht?
Uraufführung „Affairs of the Heart“ David Dawson
Was für ein Gegensatz zu David Dawsons Uraufführung „Affairs of the Heart“, die den Abend in einer formalen Opulenz aus bloß körperenergetischem Kreisen und den Raum vereinnahmenden Spiralen auf das Wunderbarste eröffnet hatte. Sieben Tänzerinnen und fünf Tänzer werden hier vor einer Palette wechselnder, geometrisch gefasst über Wände kriechender Farbnuancen einfach grandios zum Fliegen gebracht.Musikalisch war dies teils noch etwas wackelig – wohl aufgrund einer kurzfristigen Umbesetzung beim 25-minütigen titelgebenden „Konzert für Violine und Streichorchester“ des kanadischen Komponisten Marjan Mozetich.
Immer wieder ziehen ihre ausdrucksstark ungewöhnlich abgewinkelten Hände die Aufmerksamkeit auf sich. Ganz en passant, als wäre das innerhalb einer schon brisanten Dynamik überhaupt nichts, werden Hebungen und technisch irre Figuren in das unaufhaltsame Fließen der Choreografie eingewoben. Aus zahlreichen Begegnungen und offenen Paarbeziehungen entsteht – emotional bewusst abstrakt – eine an Nuancen beeindruckend reiche, lebhaft pulsierende Seelenlandschaft. In ihrer Fülle ist diese auf Anhieb unmöglich ganz zu erfassen. Was man mit nach Hause nimmt? Eine bildstarke Hommage an die Kraft des umsichtigen Miteinanders und der Liebe.
Deutsche Erstaufführung von Alexei Ratmanskys „Bilder einer Ausstellung“
Alexei Ratmanskys fröhlich-freches Stück zu Modest Mussorgskis Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ aus dem Jahr 2014 passt sich da bestens als verbindendes Glied ein. Zehn Protagonisten sind es lediglich, die der Choreograf hier auf eine leichtfüßig-verspielte Promenade schickt. Ein kurioser Weltenbummel. Obwohl der 30-Minüter auf klassischer Balletttechnik basiert, werden die Tänzer durch quirlige Sprünge, schnelle Drehungen, schwierige Hebungen, neuartige Schrittkombinationen, zeitgenössische Port de bras sowie hier und da kleine Twists ständig aufs Neue aus ihrer Komfortzone gestoßen.
Von Szene zu Szene nehmen seine Tänzerinnen und Tänzer – als Einspringer darunter (für die erkrankten Prinzipals Osiel Gouneo und Yonah Acosta) Ratmanskys Ballettmeister Amar Ramasar – an Fahrt auf. Sie formieren sich zu einer neugierig aufgelegten Mannschaft und exerzieren – zuweilen solistisch – eine Reihe kurioser Geschichten durch, mitunter von märchenhaften Charakteren wie einem weiblich besetzten zornigen Gnom oder der hier von einem Mann getanzten Hexe Baba Jaga. Verführerisch kindlich in seinem prompten Elan und stets im Einklang mit der Musik, die ihnen den Rhythmus, die Melodie und Stimmung von himmelhoch jauchzend bis zu hinterhältig oder kollektiv betrübt vorgibt.
Kandinskys ideengebende „Quadrate und konzentrische Ringe“ tanzen via Projektionsdesign im Hintergrund mit. Angekommen beim finalen „Großen Tor von Kiew“ schweben sie wie Ballons, dann wie Sterne über einen blauen Himmel. Für München setzt der Choreograf als letzten Höhepunkt ein symbolisches Zeichen obenauf: Die Farben zerfließen zu einem blauen und einem gelben Streifen. Genau wie die ukrainische Fahne, die Ratmansky beim Schlussapplaus hartnäckig schwenkt, während seine Interpreten vom Publikum zu Recht bejubelt werden. Zu Putins Angriffskrieg hat der künstlerisch schon lange in Amerika verankerte Ratmansky – als gebürtiger St. Petersburger mit Familie in der Ukraine, wo er einst im Nationalballett als Solist tanzte – bereits im Vorfeld klar Stellung bezogen.
Bayerisches Staatsballett: "Passagen", Premiere am 26. März in der Bayerische Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 9., 12. April, 3., 7., 12. Mai und 4. Juli 2022. Ballettfestwoche bis 3. April