Auch Ballettdirektor Martin Schläpfer lässt das Ballett aller Ballette nicht aus und setzte die Wiederaufnahme der zuletzt unter Manuel Legris einstudierten Wiener Fassung Rudolf Nurejews auf den Spielplan. Routiniers tanzten die erste Aufführung: Denys Cherevychko, Maria Yakovleva und Eno Peci. Insgesamt ein solider Abend, auch wenn Ausdrucksfähigkeit gelegentlich sogar mehr fehlte als technische Präzision.
„Schwanensee“ steht bekanntlich für den Inbegriff des klassischen Balletts und sorgt demgemäß zuverlässig für volle Häuser. Besonders auch in Wien, wo immer noch die Aura Rudolf Nurejews als Erneuerer mancher Handlungsballette beschworen wird. Folglich war die Wiener Staatsoper ausverkauft, was man in diesen düsteren Tagen des Krieges Putins gegen die Ukraine auch als Zeichen lesen mag, dass Kunst keine nationalen Grenzen kennt. Und dieses ikonische russische Meisterwerk mit der großartigen Musik Tschaikowskis (Musikalische Leitung: Robert Reimer) wurde von russischen und ukrainischen Ensemble-Tänzer*innen gemeinsam dargeboten, denen es nicht im Traum einfallen würde, einander zu bekämpfen.
Allen voran genannt seien Denys Cherevychko, einem gebürtigen Ukrainer aus Donezk als Prinz Siegfried und Maria Yakovleva aus St. Petersburg in der Doppelrolle von Odette/Odile. Beide sind Routiniers und erfahren in ihren Rollen als jagender Prinz und gejagter Schwan. Während Yakovleva sowohl das Können als auch Ausstrahlung und Präsenz aufweist, mag der technisch durchaus starke Cherevychko nicht so recht als nobler Prinz, der ins melancholische Grübeln verfallen ist, gefallen. Die beiden harmonieren körperlich nicht besonders, was schade ist, weil das Gesamtbild dadurch beeinträchtigt wird.
Auch Eno Peci ist erfahren als Zauberer Rotbart und agiert solide. Ein Manko aller ist jedoch die ungenügende pantomimische Darstellungsweise, was in Handlungsballetten des 19. Jahrhunderts aber nicht unwesentlich ist. Darauf sollte bei Einstudierungen generell mehr Wert gelegt werden, durchaus auch in Kenntnis des historischen Diskurses um die Pantomime im Tanz, der seit dem 18. Jahrhundert immer wieder geführt wurde.
Eine zweite Beobachtung: „Schwanensee“ lebt vom Ballet blanc, den Szenen mit den Schwänen in ihren weißen Tütüs. Selbst wenn Nurejew die Choreografie des Prinzen dramaturgisch und tänzerisch überarbeitet hat zu dessen Gunsten, ist das Herzstück doch der Tanz der Schwäne. Diese wunderbaren, auf Lew Iwanow zurückreichenden speziellen Bewegungen der flatternden Arme und sanften Arabesken und die gesamte geometrische Positionierung im Raum machen den Zauber dieses Stückes bis heute aus. Weniger die eher schon entbehrlichen langwierigen Charaktertänze. Umso wichtiger ist aber die Präzision der virtuosen, bisweilen maschinenartigen Formationen, deren technisches Gelingen allein jedoch noch nicht zum hohen ästhetischen Vergnügen führt. Das Publikum darf die Anstrengung nicht wahrnehmen, sonst gelingt diese fast metaphysische Transformation nicht.
Ein Beispiel dafür wäre der legendäre Tanz der „kleinen Schwäne“ im 2. Akt, in dem die vier Tänzerinnen einander an den Händen haltend, stakkatoartige den Raum durchtanzen, mit komplexen Pas und Sprüngen höchster Schwierigkeitsstufe. Das erfordert Können, Konzentration und Kondition. Ioanna Avraam, Elena Bottaro, Sonia Dvorak und Aleksandra Liashenko haben das auch gut gemeistert. Es fehlte aber, und das gilt auch für die großen Gruppenszenen, an Überzeugungskraft. Das, was gekonnt wird, muss auch behauptet werden, sonst erstarrt es in seelenloser Virtuosität.
So dominierte der Eindruck, dass der Fokus eher auf der richtigen Bewegungsausführung lag, vielleicht auch ein Nebeneffekt des ersten Abends. Da bleibt zu hoffen, dass noch mehr spielerisches Theater dazukommt. Es sind schwere Zeiten und der Bedarf nach märchenhaft Schönem ist groß. „Schwanensee“ ist nicht retro, sondern ein Geschenk an uns alle, das auch blendend verpackt werden sollte.
Wiener Staatsballett: „Schwanensee“ am 13. März 2022 in der Wiener Staatsoper. Weitere Aufführungen am 17., 18. und 25. März