Nach ungefähr zwei Jahren stand das Wiener Staatsballett wieder in einem Klassiker auf der Bühne und damit auch das erste Mal unter der Direktion von Martin Schläpfer. Vor dem Hintergrund häufiger, Pandemie bedingter Umbesetzungen gelang mit der Wiederaufnahme von „Giselle“ ein durchaus solider Einstieg mit einem gut geprobten Ensemble. Mag sein, dass es einerseits noch an tänzerischem Esprit mangelt. Andererseits kommt diese Wiederaufnahme in der Einstudierung von Brigitte Stadler der Intention ihrer Schöpferin Elena Tschernischova näher denn je.
Diese machte in ihrer Version der „Giselle“ nicht nur aus dem Bauern Pas de deux im ersten Akt einen Pas de quatre, sondern deutete auch an, dass Giselle die Tochter des Herzog von Kurland sei. Für die Entwicklung des Plots hat dies keine Konsequenzen, doch wie wirkt es auf Giselles Mutter? Dass Franziska Wallner-Hollinek sich diese Frage stellt, gibt ihrer Interpretation dieser Rolle eine neue Dimension. Kurz zuckt sie bei der Begegnung mit dem Herzog zusammen, und bietet der Jagdpartie erst nach einigem Zögern die Gastfreundschaft an. Bereits zuvor hat sie ihre an Herzschwäche leidenden Tochter beschworen, mit dem Tanzen aufzuhören. Mit ihrer pantomimischen Beschreibung, wie unverheiratete Mädchen zu einem Dasein als Wili zum ewigen Tanz verdammt seien, setzt Wallner-Hollinek einerseits hochdramatische Akzente, andererseits den Rahmen für die Handlung und nimmt damit eine zentrale Stellung ein. Die Verzweiflung der Tochter über den Verrat ihrer Liebe, spiegelt sich ungebrochen in der Mutter wider, indem sie jede Geste, jede Bewegung der Unglückseligen begleitet.
Ljudmila Konovalova ist Giselle, das von Liebeskummer in den Tod getriebene Bauernmädchen. Ihre Gunst gilt Albrecht, ein Aristokrat, der vorgibt einer der ihren, also ein Bursche vom Land zu sein. Doch die Eleganz von Masayu Kimoto verrät den Edelmann durch und durch. Damit steht er in bestechendem Kontrast zu Eno Peci, der als Hilarion, der standesgemäße, treue Verehrer Giselles, dessen Charade aufdeckt. Doch hier gibt es keine Bösewichte, vielmehr bleiben beide in ihren Absichten und Handlungen bis zum Schluss mehrdeutig. Wird Hilarion von den Wilis in den Tod getrieben oder ergibt er sich freiwillig, kampflos? Ist Albrecht überrascht, wenn er der Hetzjagd unter dem Schutz von Giselle entgeht? Jedenfalls ist der Pas de deux im zweiten Akt frei von Pathos und verkörpert eher eine zarte Begegnung zwischen Mensch und Geisterwesen. Mit strenger Disziplin leitet Kyoka Hashimoto die Wilis, die in tadellosen Linien ihrer männermordenden Aufgabe nachgehen. Das Corps de ballet wurde dabei vom Orchester unter der Leitung von Jendrik Springer musikalisch förmlich getragen.
Der Abend erhält durch eine weitere „Nebenrollen“ einen prägnanten Dreh, durch Claudine Schochs Verkörperung von Bathilde, der Tochter der Herzogs und Verlobte Albrechts. Als einzige trägt sie in Tschernischovas schwarz-weiß Inszenierung Farbe, ein knallrotes Samtgewand, das gleich Giselles Aufmerksamkeit erregt. Ist sie anfangs von deren Bewunderung gerührt, wird sie der Annäherungsversuche bald überdrüssig und weist sie schroff zurück, lange bevor ihr das Dilemma, in das sich ihr Verlobter manövriert hat, bekannt ist.
Während die Wiederaufnahme also vor allem durch eine klug durchdachte Rollengestaltung überzeugte, so sorgten Masayu Kimoto sowie Arne Vandervelde und Sonia Dvořák als Bauernpaar für tänzerische Highlights.
Wiener Staatsballett: „Giselle“ am 15. Februar 2022 in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 17., 18., 20. und 23. Februar