Unter dem gemeinsamen Titel „Begegnungen“ trafen in der Premiere des Wiener Staatsballetts an der Volksoper drei sehr unterschiedliche choreografische Zugänge aufeinander: Zwei Uraufführungen vom Nachwuchschoreograf Andrey Kaydanovskiy und dem Ballettchef Martin Schläpfer sowie eine neu einstudierte Arbeit von Alexei Ratmansky standen auf dem Programm.
Eine rostige Wand, oben, außerhalb der Reichweite, ein erleuchtetes Fenster, davor ein Tänzer (Marcos Menha), der sehnsuchtsvoll darauf blickt. Doch im hektischen Treiben wird er von der Gruppe mitgerissen. Sie tragen lange, plissierte Röcke, schwingen sie, drapieren sie eitel um ihren Körper. Ihre Lippen sind rot ummalt, sie könnten Clowns sein, doch lustig sind sie nicht. Eher bedrohlich, besonders im Auftreten von Lourenço Ferreira, kommt einem „The Joker“ in den Sinn. Ihre Begegnungen sind rau, aggressiv, kämpferisch. Auch als sie die Röcke ablegen und in hautfarbenen, zerschlissen anmutenden Kostümen (von Karoline Hogl) sich in ihrer kaputten Existenz zeigen, verändert sich die aufgeladene Stimmung nicht. Wie bei einem Krimi sitzt man an der Kante seines bequemen Theatersessels. Die vielfältige Musik von Christof Dienz mit ihren zahlreichen Anklängen, einmal an Jazz, dann wieder an Volksmusik, treibt das Geschehen voran. Rebecca Horner trifft auf Marcos Menha, da fällt krachend die Wand. Im Fensterausschnitt steht das Paar allein in einer Blumenwiese. Doch auch wenn die Musik in diesem Moment die Naturidylle reflektiert, von Romantik sind sie auch in ihrem Pas de deux weit entfernt. Denn dahinter hat sich eine Linie von Wesen mit grellen Kopfleuchten aufgestellt. Vielleicht sind es ja Aliens, die sich am Ende um den Platz, auf dem die beiden getanzt haben, gruppieren. Sie starren auf den Boden, als schauten sie in einen Abgrund.
Andrey Kaidanovskiy ist einer jener Tänzer des Wiener Staatsballetts, der in jeder Rolle, sei es in einem Charakter oder in einer handlungslosen Ballett eine persönliche Interpretation zum Ausdruck brachte. Das verlangt er nun als Choreograf auch von seinen Tänzer*innen. Er schafft Stimmungen, scheint ein Narrativ zu verfolgen ohne eine Handlung vorzugeben und passt die Bewegungen dieser Inszenierung an. Der Theateraspekt ist ihm dabei wichtiger als die Entwicklung eines eigenen Bewegungsidioms. Die Geschichte erzählt nicht er, sondern überlässt es den Tänzer*innen und dem Publikum, diese zu finden. Damit hat er einen Ansatz in der zeitgenössischen Choreografie gefunden, mit dem er, seit er 2009 sein erstes Stück beim choreo.lab vorgestellt hat, zunehmend Beachtung findet. Seit 2019 ist er Hauschoreograf beim Bayerischen Staatsballett, für das er 2020 „Cecil Hotel“ kreierte, das für den Prix Benois nominiert war.
Mit seinem „lux umbra“ zur Auftragskomposition von Christof Dienz hat das Wiener Staatsballett seit langem wieder eine Originalschöpfung in seinem Repertoire. Es möge der Auftakt eines programmatischen Anliegens sein, das seit der Ballettdirektion von Gerhard Brunner (1976 bis 1990) sträflich vernachlässigt wurde.
Einen hellen Einstieg in den Abend bereitete Alexei Ratmanskys tänzerische Interpretation der „24 Préludes“ von Frédéric Chopin in der Orchesterfassung von Jean Françaix. Die unterschiedlichen musikalischen Stimmungen von romantisch bis dramatisch wurde von acht Tänzer*innen– Rebecca Horner, Marcos Menha, Maria Yakovleva, Arne Vandervelde, Aleksandra Liashenko, Denys Cherevychko, Liudmila Konovalova und Alexey Popov – in Soli, Pas de deux oder Gruppenszenen leichtfüßig interpretiert.
Ratmansky baut in seiner Arbeit ganz auf die Neoklassik, in der Tradition von Balanchine und Robbins. Auch die „24 Préludes“ sind tänzerisch, abstrakt und, in den schlichten und wirkungsvollen Kostümen von Keso Dekker, sehr gefällig.
Den klassischen Tanz auszureizen, in neuen Konstellationen zu formulieren, ist das Markenzeichen für die Arbeit des Wiener Ballettchefs Martin Schläpfer. Für seine neue Kreation hat er sich eine Ikone der klassischen Musikliteratur vorgenommen: Beethoven 4. Klavierkonzert. Das Bühnenbild von Marcus Spyros Bertemann erinnert an einen Schiffsrumpf, Wellen durchziehen die einfach gestalteten Kostüme von Hélène Vergnes. Auf der Bühne eine Tänzerin die ihre in der Luft gegrätschen Beine zusammenführt und sie in Bauchlage hinten hochzieht, wird zu einer Lorelei. Aber die Wasserassoziationen verschwinden gleich, wenn drei Tänzerinnen eine Vorführung ihrer individuellen Interpretation von Spitzentanz geben. Soli, Pas de deux und Ensembleszenen wechseln sich ab bis der zweite Satz mit einer langen Pause eingeleitet wird, während der der Tanz von Yuko Kato, Calogero Failla und Claudine Schoch bereits beginnt. Die Spannung zwischen den dreien bildet einen Kontrapunkt zu den beiden Randsätzen, und bricht den großen Bogen der Beethovschen Komposition, der auch im letzten Satz nicht mehr geschlossen wird, und in dem ein Solo mit Hyo-Jung Kann ein hell glänzendes Highlight ist.
„In Sonne verwandelt“ nennt Martin Schläpfer diese Arbeit, ein Titel, der in der Lichtregie von Stefan Bollinger und den Kostümen von Hélène Vergnes jedoch keine Entsprechung findet. Auch diesmal bleibt Schläpfer seiner Vorliebe für gedämpfte Stimmungen treu.
Das Volksoperorchester und der Pianist Johannes Piirto sorgen an diesem Abend unter der Leitung von Gerrit Prießnitz durchgehend für einen großartigen Hörgenuss.
Wiener Staatsballett: „Begegnungen“, Premiere am 2. Februar 2022 in der Volksoper Wien. Weitere Vorstellungen am 7., 12., 22., 27. Februar; 4., 9., 15. März.