Zwei Jahre lang mussten die Schüler*innen der Ballettakademie auf ihren Auftritt an der Wiener Staatsoper verzichten. Nun durften sie endlich auf die große Bühne. Die Defizite, die durch das „Lock, Stop, Go“-Regime der letzten Jahre, nicht nur, aber besonders Kinder und Jugendlichen erlitten, thematisierte Ballettchef Marin Schläpfer in seiner Eröffnungsrede. Darin ging es allerdings auch grundsätzlich um das Tanzstudium und weitreichende gesellschaftspolitische Zusammenhänge wie Demokratie und soziale Verantwortung.
Beim Tanzen sei man immer Teil einer Gesellschaft, immer in deren Dienst und gleichzeitig kritisches Individuum. Tanz zu studieren sei weit mehr als tanzen zu lernen. Es sei Menschenbildung, eine Metapher für Demokratie. Als pädagogisches Institut pflege eine Tanzakademie die vernachlässigten Facetten der ganzheitlichen Erziehung und gebe dem Körper seine Würde und Schönheit zurück. Nicht alle Elev*innen werden auch Tänzer*innen werden, doch: „Ein Tanzstudium kann viele Berufe nähren. Es ist nie eine verlorene Zeit."
Und nach zwei Jahren Pandemie habe man nun den Fokus bei dieser Matinee nicht auf technisches Können gelegt, sondern die Klassik hinten angestellt, beschloss Schläpfer seine ausgedehnte Rede (die leider akustisch nicht optimal ausgesteuert und teilweise schwer verständlich war). Und von Technik soll auch hier nicht die Rede sein.
Martin Schläpfer legt in der Ballettakademie der Wiener Staatsoper auch Hand an und ließ das Publikum an seiner Arbeit teilhaben. Einerseits präsentierten Mitglieder der Jugendkompanie Auszüge aus dem Stück „Jaime“ zu einer köstlichen Playlist unterschiedlicher Musiken, von Klassik über Folklore bis zu Pop. Die Schweiz ist dabei nicht nur „Sechs Variationen über ein Schweizer Lied WOO 64“ von Ludwig van Beethoven sondern auch in einem Appenzeller Zäuerli vertreten. Als work in progress bekam man einen Einblick in die Probenarbeit mit dem Choreografen anhand von zwei Pas de deux. Schläpfer macht diese Probe zu einer durchaus humorigen Performance. Gleichzeitig ging es dabei exemplarisch um die künstlerische Feinarbeit, die das Tanzen auch für den Zuseher aufregend macht. Dynamische Differenzierung, um apollinisch-dionysische Konflikte, die sich im Körper manifestieren, um das Vereint-Sein und der gleichzeitigen Sehnsucht nach Unabhängigkeit. Die subtilen Änderungen im körperlichen Ausdruck verändern die Bedeutung von Bewegung, geben der Choreografie ihren jeweiligen Sinn, den man nicht außerhalb des Tanzes suchen muss.
Die weiteren Darbietungen an diesem Morgen ließen sich allerdings mit Schläpfers geäußerten Gedanken nicht verknüpfen. Sowohl in „Modern & Contemporary Class Work” unter der Leitung von Jed O’Grady Weiss, einer Pädagogin an der Ballettakademie, als auch in „Gioconda‘s Smile“ von Direktorin Christiana Stefanou ging es in erster Linie um eine Leistungsschau diszipliniert erarbeiteter Sequenzen. O’Grady Weiss unterlegte ihre Choreografie mit Tonbandaufnahmen von Greta Thunbergs Rede beim Wiener Klimagipfel. Der politaktivistische Ansatz war allerdings im Tanz nirgendwo zu entdecken. Christiana Stefanous Versuch zur Komposition des griechischen Komponisten Manos Hadjidakis eine Geschichte zu erzählen, stand in Konflikt mit der Nummernrevue bei der alle Schüler*innen ihren Auftritt bekamen.
Bei aller stilistischer Unterschiede folgten sie dem Beispiel der „strengen“ Klassik, die die oberen Klassen in Auszügen aus dem Ballett „Raymonda“ präsentierten. Wobei die künstlerische Qualität eines Petipa und Sergeyev hier in keiner Weise mit den aktuellen Werken auf eine Ebene gestellt sein soll …
An diesem Vormittag war alles brav und gut geprobt, doch die Schüler*innen kommen aus dem Exercise-Modus nicht hinaus, scheinen eher bemüht Fehler zu vermeiden als die Freiheit des Tanzens zu erleben. Wo bleibt die Freude und Begeisterung? Warum muss/soll eine Tanzausbildung den Studierenden ein derartiges Korsett auferlegen? Sollte die Frage nicht sein, wie sich Tänzer*innen mit einer kritischen Haltung entwickeln, auch wenn sie dem Regelwerk, das für eine klassische Tanzausbildung unabdingbar ist, folgen? Wenn das gelingt, können sie den von Schläpfer erhobenen Anspruch einlösen, sich als „Demokrat*innen“ im Spannungsfeld von Gruppe und individueller Persönlichkeit zu entwickeln.
Freilich, die Ballettakademie hat im Herbst 2019 einen Neustart versucht und hatte wenig Gelegenheit sich zu entwickeln. Ein Kinderschutzkonzept ist nun angeblich eingebracht, doch der Ansatz, der in dieser Matinee präsentiert wurde, lässt die Neuaufstellung in ballettpädagogischer Hinsicht vorerst nicht erkennen.
Ballettakademie der Wiener Staatsoper, Matinee am 16. Jänner 2022 in der Wiener Staatsoper