Von der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit. Vor 15 Jahren gründete der österreichische Choreograf und Tänzer Chris Haring seine Kompanie Liquid Loft, die inzwischen zu einem weltweit gefeierten Aushängeschild des österreichischen zeitgenössischen Tanzes geworden ist. Bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung heimsten Liquid Loft auf der Biennale in Venedig für ihr dort uraufgeführtes Stück „Posing Project B - The Art of Seduction“ einen Golden Löwen ein.
Im Rahmen der von ImPulsTanz ausgerichteten „Geburtstagsfeier“ war es nun noch einmal in Wien zu sehen.
Vier PerformerInnen simulieren, von weißen flauschigen Decken bedeckt und jeder für sich, stöhnend Kopulation, dabei a capella Lionel Richie's „Hello“ singend. „Hello“ ruft einer noch den Anderen hinterher. Dann betritt Alexander Gottfarb, der mit Stephanie Cumming, Katharina Meves, Anna Maria Nowak und Luke Baio auch bereits die Uraufführung in Venedig tanzte, als erster Performer die weiße, säulengerahmte Bühne des Wiener Odeon. Nackt posiert er, sein Geschlecht stets verbergend hinter einem Bildband. Dessen Cover zeigt ein ebenfalls unbekleidetes Paar beim zärtlichen Liebkosen. Venus und Amor in dem Gemälde „Allegorie der Liebe“, gemalt von Bronzino, einem italienischen Maler des Manierismus des 16. Jahrhunderts. Die Show ist eröffnet.
Die Kunst der Verführung. Wer verführt wen wozu? Wer entführt wen wohin? Wozu führt das? Der Reigen an Maniriertheiten ist bunt, die Wege der Verführung mannigfaltig. Mit viel Erotik als dem alles durchdringenden Äther. Und als Waffe.
Barocke Hintergrund-Musik holt Puder und Perücken als imaginäre Co-Performer auf die Bühne. Das Ewig-Gleiche wandelt nur seine Erscheinung im Laufe der Zeiten. Harings Arbeiten kreisen um eben diesen Kern, dem Mäntelchen umgehängt werden aus Genusssucht und Völlerei, aus Missbrauch sozialer Medien zur Präsentation von wie Pflaster auf die wunde Seele geklebten Schein-Identitäten, und, in seinem jüngsten Stück „BLUE MOON you saw“, im Rahmen dieser Würdigung seitens ImPulsTanz uraufgeführt, aus zelebrierter, allen Zeiten und Räumen enthobener, konsolidierter Deformation.
Ein sich widerstandslos den scheinbar übermächtigen Normierungen ergebendes Subjekt wird zur Pose, zu Schwindel und Lüge. Wenn sie sich der in variablen Geschwindigkeiten eingespielten Sprache performativ angleichen, wird Anpassung zur Groteske. Wenn sie wie auf dem Catwalk, in kurzen Schleifen gefangen, ihre entstellten Oberflächen präsentieren. Die Fratzenhaftigkeit als das ins Körperliche drängende Selbstbild und ebenso als die Maskierung des Bedürfnisses, geliebt zu werden und, viel stärker noch, des Wunsches, sich selbst zu mögen oder gar zu lieben. Plüschdecken-verhüllte Sessel, auf dem sich die Damen räkeln, entpuppen sich als Männer. Nicht nur physisch Rahmen, Stütze, Halt. Quelle und Ziel weiblicher Begierden, männliche Anbetung und patriarchale Objektivierung zugleich. Mit ihren Schatten an der Wand spielen sie ins Absurde gesteigerte sexuelle Praktiken. Und Alexander Gottfarb singt dabei „I'm so lonely“. Sie liegen am Boden, dehnen ihre Tops wie eine sie erstickende Glasur.
Die reflexive Komponente all unserer Äußerungen, dass also das Ziel unserer Emissionen nie das Außen allein, sondern immer auch, und ganz wesentlich, wir selbst sind, übersetzt Chris Haring in treffende Bilder von teils verstörender Schönheit. Auch das so befriedigende Gefühl der Macht, Begehren zu wecken und diesem nach Belieben, und zur weiteren Steigerung der Lust, ein Körbchen zu schenken, würzt die Luft des Odeon.
Was den Einzelnen krank macht, macht die Gesellschaft krank. Haring arbeitet die Verantwortung des Individuums für seine seelische Gesundheit und als deren Konsequenz für die der Gesellschaft heraus. Er verzichtet bewusst auf die Umkehr der Kausalitäten, die den Einzelnen entlasten und aus eben dieser Verantwortung entlassen würde. Deren Übersetzung in Verhalten verlangt, die aktuellen Ereignisse geben Chris Haring Recht, die Corona-Pandemie.
Angestaubt nach 13 Jahren? Mitnichten. Die in diesem Stück entwickelte tänzerisch-darstellerische und akustische Ästhetik und Stilistik, Musik und Sound von Andreas Berger unterstützen meisterlich, erwies sich in der nun möglichen Rückschau als wegweisend für das - bisherige - Schaffen von Chris Haring. Mehr noch. Das Sujet von Posing Project B weist auf das zentrale Thema Harings. Dieser überaus vergnügliche Jahrmarkt der Eitelkeiten, von einer brillanten Kompanie performt, ist nichts als ein trauriges Zerrbild der ins Physische gefallenen seelischen Pein eines selbst-entfremdeten Menschen. Man lacht, um nicht weinen zu müssen beim Blick in diesen Spiegel.
„Posing Project B - The Art of Seduction“ von Liquid Loft / Chris Haring, am 13. Oktober 2020 im Odeon Wien im Rahmen von ImpulsTanz Classic.