Die mit einem abgespeckten Programm auf den Herbst verlegten Wiener Festwochen gaben mit einem Tanzkonzert von und mit Anne Teresa de Keersmaeker und Pavel Kolesnikov einen stimmungsvollen Auftakt für die neue Saison. Die Neukreation des Bachschen Universums ließ mich sogar die Wirklichkeit vergessen – und das trotz der sicht- und spürbaren Corona-Maßnahmen, die die Festwochen elegant und effektiv managten.
Es ist einfach nicht mehr selbstverständlich, dass man wieder im Theater sitzt. Jeder zweite Platz ist abgesperrt, (was auch den Vorteil hat, dass sich der Kopf des Vordersitzenden nicht ins Blickfeld drängt). Maskiert werden wir zu unseren Plätzen geführt, die Sicherheitsanweisungen werden vor Beginn des Konzerts über Lautsprecher bekannt gegeben: eine Umbaupause, aber verlassen Sie bitte nicht Ihren Platz …
Auf der Bühne ein Flügel, ein kleiner Haufen goldener Folie, ein silbernes Wandpanel. Die Objekte sind nicht wo sehr Bühnenschmuck als Versatzstücke für die Lichtregie von Minna Tiikkainen. Die 60 jährige Anne Teresa de Keersmaeker betritt die Bühne im durchsichtigen kleinen Schwarzen, die weißen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wir kennen ihren Stil: leichte Schritte, zufällig wirkende Handgesten, mit der sie dem zeitgenössischen Tanz seit den 1980er Jahren ihren Stempel nachhaltig aufdrückt - nicht nur durch ihre Ausdrucksweise, sondern auch durch ihre vielfältige Auseinandersetzung mit Musik. Auch die „Goldberg-Variationen“ erscheinen wie eine flüchtig hingeworfene Skizze. Ein Tanz ohne Aplomb, ohne Attitüde, vielmehr uneitel, authentisch, ehrlich, manchmal schelmisch. Zwei Stunden lang hält uns De Keersmaeker mit ihrem tänzerischen Understatement in ihrem Bann. Es ist als hätte sie ihr künstlerisches Leben in diesem Solo noch einmal eingefangen. Freilich nicht allein. Denn die „Goldberg-Variationen“ sind auch eine Einladung zum Hinhören: der ursprünglich für das Cembalo komponierten Partitur gewinnt der jungen Pianist Pavel Kolesnikov auf dem Grand Piano innige, ja fast romantische Noten ab.
Natürlich evoziert das Duo auch die ikonische Aufführung des Bachschen Meisterwerkes von Steve Paxton zur Interpretation von Glenn Gould aus den 1980er Jahren. Bei seinen zahlreichen Auftritten kam die Musik vom Band und die tänzerische Struktur entstand in einem Prozess der Improvisation als eine Reaktion auf die Musik. De Keersmaeker aber sucht in ihren musikalischen Erkundungsreisen möglichst die direkte Kommunikation mit MusikerInnen und das in einem streng strukturierten Rahmen. Die Choreografie ist wohl auch in diesem Solo bis ins letzte Detail festgelegt. Und so werden diese Goldberg Variationen unter ihrer tänzerischen Regie ein Tanzkonzert im besten Wortsinn: eine musikalisch-tänzerische Einheit, in der die beiden Elemente einerseits eigenständige Stimmen bleiben, und sich andererseits harmonisch miteinander verbinden.
Das Publikum weiß es zu schätzen, nach mehreren „Vorhängen“ stoppt de Keersmaeker den Applaus, bedankt sich für's Kommen, es sei wichtig „in diesen schwierigen Zeiten“. Und da merke ich, dass ihre Kunst mich tatsächlich in eine andere Welt befördert hatte. Ein Geschenk! Erst die disziplinierte Anordnung, wie wir auf Anleitung das Theater verlassen dürfen, bringt mich zurück in unsere seltsame Realität.
Wiener Festwochen: Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas, Pavel Kolesnikov „Die Goldberg Variationen, BMV 988“ am 27. August 2020 (Uraufführung am 26. August), MQ, Halle E. Letzte Vorstellung am 30. August, 16 Uhr
Nächste Tanzperformances: Marlene Monteiro Freitas „Mal – Embriaguez Divina“, 3. bis 6. September, MQ, Halle E