„Gespenster, Geschlechterkonstrukte, Geopolitiken“ untertitelt Claudia Bosse ihre jüngste, im Kosmos-Theater in ihrer Europa-Premiere gezeigte Arbeit, in der sie sich mit viel Text, Mono- und Dialogen, Fotos, Objekten, elektronischem Sound, Tanz und Bewegung im mit den Zuschauern geteilten Theater-Raum gemeinsam mit Abdalla Daif und Günther Auer auf eine arabisch-europäische Forschungsreise begibt.
Gewohnt umfangreich und breitbasig in der Recherche und der sich daraus ergebenden Themenfülle erarbeitet die im deutschen Salzgitter geborene Regisseurin, Choreografin und künstlerische Leiterin des „theatercombinat“ gemeinsam mit dem ägyptischen Performer und Produzenten Abdalla Daif und dem österreichischen Komponisten und Medienkünstler Günther Auer diese in Alexandria uraufgeführte Performance. Claudia Bosse und Abdalla Daif fragen nicht nur und benennen, sie beziehen Stellung. Das Gift in den Kulturen und Traditionen, in den religiösen und politischen Praktiken, in den sozialen und gesellschaftlichen Strukturen wirkt. Dicht und dynamisch sprechen sie von der Komplexität des Lebens, in zuweilen sehr poetischen Bildern und induzieren vielfältige Emotionen.
Wie die sich ergänzenden Polaritäten Yin und Yang liegen sie zu Beginn in den Rängen, die Deutsche und der Ägypter. Und am Ende raufen sie und rufen „I would like to imagine ...“. In den zwei Stunden dazwischen passiert eine Menge. Ein zentraler Aspekt des Settings ist das Teilen des Raumes mit dem Publikum. Nicht nur rein physische, sondern soziale, private, gesellschaftliche, kulturelle und künstlerische Standorte und -Punkte begegnen und durchmischen sich hier. Die, und das ist eine Eigenheit der Arbeiten Claudia Bosses, große bis übergroße Fülle der Themen, Informationen und Bilder fordert heraus. Gleich zu Beginn spricht uns Abdalla Daif, nachdem er sich aus der Einheit der Gegensätze gelöst hat, auf arabisch und in aberwitziger Geschwindigkeit (ein Mitlesen der englischen Übersetzung, die auf den Tribüne und Bühne trennenden halbtransparenten Vorhang projiziert wird, ist nur bruchstückhaft möglich) von einer bei den britischen Kolonialherren unbeliebten ägyptischen Künstler-Assoziation, der Rolle der „Donkey's“ nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, der Al-Qaida und deren Anziehungskraft auf Extremisten. Rhythmisches, metallisches Schlagen begleitet ihn.
Von Alexandria erzählt Claudia Bosse, das wie ein Paris Ägyptens werden sollte, zeigt Bilder, lässt sie von Zuschauern halten. Die Kultur als Unternehmen und deren Kapitalisation beklagt sie, „Little Egypt“ in Chicago anführend. „Welcher Amerikaner fühlt ägyptische Kultur? Und welcher Ägypter amerikanische?“ „Was wird Modell oder Inspiration? Und für wen?“ Die Stille, die folgt, in der sie im Publikum stehen und es anschauen, ist knisternd. Sie tanzen, die Deutsche in der Mitte der Menge, der Araber an der Wand, von der er sich nur mühsam löst. Abdallah Daif richtet seine zuerst ausgestreckte Faust dann langsam gegen sich selbst. Er berichtet mit gesenkter, weicher Stimme von Wien, der dunklen Stadt. „Wollen sie einreisen?“ Und der fremde, dunkle, arabische Moslem steht vor einem Messer-Laden. „Soll ich den Anderen auch wehtun?“ Seine Einsamkeit, sein weggeworfenes, zerstörtes Leben, auf der ganzen Welt! Die Zärtlichkeit im Klang der arabischen Sprache zu hören ist überraschend, berührend. Der Klang der Sprachen englisch, arabisch und deutsch schafft Atmosphäre.
Die Entrechtung der Frauen, man sieht sie nicht in der Öffentlichkeit, ist Thema. Wie deren Beschneidung. „Du willst mich ohne Gefühle!“ (97% aller ägyptischen Frauen erleiden eine Genitalverstümmelung - trauriger, weltweiter Spitzenwert.)
Einen Höhepunkt erreicht das Stück, als sie ein langes graues Tuch ausrollen und sich an beiden Enden darunterlegen. Eingehüllt bewegen sie sich aufeinander zu. Claudia Bosse geht vor Abdalla Daif auf die Knie. Und dann sitzen sie sich gegenüber, im grauen Tuch. Ein vieldeutiges Bild vom Verhältnis der Geschlechter, der Kulturen und auch ein möglicher, längst fälliger Kniefall Europas vor seinen geschundenen Kolonien.
Claudia Bosse und Abdalla Daif: „Dialogue on Difference“, am 15. und 16. Nov. 2019 im Kosmos-Theater Wien