1869 war nicht nur das Gründungsjahr der Wiener Staatsoper und des dort ansässigen Balletts, sondern auch der Beginn der diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und Japan. Aus diesem Anlass gastierte das Tokyo Ballet mit Maurice Béjarts „The Kabuki“ im Haus am Ring. Das Resultat seiner Verbindung des neoklassischen Ballettstils mit der traditionellen, japanischen Theaterform ist ein hochästhetischer Augenschmaus und – im übertragenen Sinn – ein perfektes Symbol für die Zusammenarbeit der beiden Staaten.
Maurice Béjart (1929-2009) hatte immer großes Interesse an anderen Kulturen, das sich in unterschiedlichen tänzerischen Projekten manifestierte. Mit dem Tokyo Ballet verband ihn eine lange, kreative Zusammenarbeit, die mehrere Ballette hervorbrachte. In einigen von ihnen nähert sich der große Choreograf des 20. Jahrhunderts der japanischen Tradition aus der westlichen Perspektive. Er hat Kabuki so interpretiert, wie es ein Kulturfremder am Besten tut: Er hat nicht versucht zu erläutern, zu erklären oder zu analysieren, sondern sich ganz auf die Geschichte vom rituellen Selbstmord von 47 Kriegern konzentriert, die ursprünglich in einem Puppenspiel und später als Kabuki-Theater dramatisiert wurde.
Das Bühnenstück, das aus der Verschmelzung von Ballettkunst und fernöstlicher, ritueller Lebensweisheit entsteht, verdankt seine magischen Momente auch schwarz gekleideten Figuren, die Requisiten und (leblose) Menschen auftauchen oder verschwinden lassen oder in Sekundenschnelle den Vorhang zwischen den 9 Szenen auf- und zuziehen.
Im Prolog lernen wir Yuranosuke, den Helden der Geschichte kennen, einen jungen Mann unserer Zeit. Er ist einer der gelangweilten Boys in einer Diskothek, bevor er das Schwert des Samurai entdeckt, das mittels einer schwarzen Gestalt auf der Bühne erscheint. Als er es an sich nimmt, wird er in einer Art Zeitreise in die Vergangenheit gezogen. Dort sieht sich der aus der übersättigten und reizüberfluteten Gegenwart Entführte mit den traditionellen Begriffen von Ehre, Leidenschaft und Rache konfrontiert. Er wird zu einem Samurai, der die 47 Ronin (Krieger) in der Zeremonie des „Seppuku“ (eine rituelle, formale Form von Harakiri) anführt. Im Gegensatz zu Stephen Spielbergs "Back to the Future"-Filmen, die ungefährt zeitgleich mit der Choreografie (1986) entstanden, kommt Yuranosuke aus der Vergangenheit seiner Vorfahren nicht mehr zurück.
Béjart tauchte ganz ein in die japanische Ästhetik, in ihre Farbenpracht, Eleganz und Grazie und erschuf so ein bewegtes Bilderbuch der Edelklasse. Das Bühnenbild mit unendlich vielen Versatzstücken ist ein Zauberladen, der ebenso wie die vielfältigen Kostüme von Nuno Côrte-Real kreiert wurden. Die einzelnen Szenen werden jeweils mit Kabuki-Sprechgesang eingeleitet, für die Toshiro Mayuzumi die Musik als eine Klangwelt zwischen Ost und West komponiert hat.
Auch wenn wir die Logik der Geschichte nicht verstehen, wenn wir die Motivation oder die Gefühlswelt der handlenden Personen nur distanziert wahrnehmen und zumeist nicht nachvollziehen können: Die Tänzer und Tänzerinnen des Tokyo Ballet, eine Compagnie in der Tradition der klassisch-akademischen Danse d’école, zeigen nicht nur tänzerische Virtuosität, sondern vermitteln auch die Spiritualität fernöstlicher Lebensweisheit.
Tokyo Ballet „The Kabuki“ am 2. Juli 2019 in der Wiener Staatsoper