Zum ersten Mal war Alain Platels verstörende Arbeit „Requiem pour L." in Österreich zu sehen, im Festspielhaus St. Pölten. Ein merkwürdiger und irritierender Abend, nicht wegen der vor einem Jahr in Berlin uraufgeführten Verquickung des Mozart-Requiems mit afrikanisch-belgischer World Music von Fabrizio Cassol, sondern weil das Publikum durch einen riesengroß projizierten Videofilm Zeuge vom realen Sterben einer Frau wird.
Vierzehn Musiker und Sänger aus mehreren afrikanischen Staaten und Belgien, darunter eine klassische Sängerin aus Südafrika, betreten die Bühne, die auf den ersten Blick wie die Abstraktion eines christlichen Friedhofes aussieht. Schwarze Stelen verschiedener Größen dienen den AkteurInnen als Spielfeld. Dem Programmheft ist zu entnehmen, dass es sich um eine Nachbildung des Berliner Holocaust-Mahnmals handelt.
Dorthin hatte die auf dem Video sterbende Frau „L.“ ihre letzte Reise mit ihrem Mann unternommen. Sie war schwer krank und wusste von ihrem nahen Tod. Sie war zu Lebzeiten eine Bewunderin von Platels Werk und wollte in ihren letzten Stunden gefilmt werden. Es war ihr ausdrücklicher Wunsch, dass Platel ein filmisches Zeugnis davon anfertigen sollte, in Kenntnis seines Requiem-Projekts, einer Auseinandersetzung mit dem unterschiedlichen kulturellen Zugang zum Tod. „Das war ein extremes und großes ‚Abenteuer‘, wenn ich es so nennen kann. Als wir mit den Proben begannen, blieben wir in Kontakt mit der Familie, die einen Teil der Proben in Gent verfolgt hat. Die Familie von L. ist berührt von dem, was wir getan haben“, sagte Platel in einem Interview mit Dramaturgin Melanie Zimmermann vom Theater Kampnagel (nachzulesen im Programmheft des Festspielhauses St. Pölten).
Mozarts von Mythen umranktes Requiem in d-Moll, das er kurz vor seinem eigenen Tod 1791 nicht mehr selbst fertigstellen konnte, ist Grundlage für Cassols Arbeit. Er komponierte anhand einer kritischen Ausgabe der Partitur Ergänzungen, die Platels theatrale Konfrontation mit dem unterschiedlichen Zugang der Menschen zum Phänomen des Todes in eine geeignete Klangwelt übersetzt. Was für die Einen Trauer über den erlittenen Verlust bedeutet, ist für die Anderen ein Anlass, das gelebte Leben der Verstorbenen in Fröhlichkeit zu feiern.
Ein klassisches Orchester gibt es hier naturgemäß nicht, sondern eine Mischung aus Akkordeon, E-Gitarre, Euphonium und Schlagwerk. Kein Chor, sondern Afro-Jazz-Sänger singen in ihren Muttersprachen, in Abwechslung mit einem klassischen Sopran, Bariton und Countertenor, die in lateinischer Sprache des Requiems „Dies irae“, „Kyrie“ oder „Lacrimosa“ anstimmen. Tanz ist hier weniger ein Genre-bildendes Medium – Platel ist ja immerhin auch Choreograph – sondern entspringt der geradezu bekundenden Freude oder Trauer als genuine Ausdrucksform, eine neben dem Gesang. Mit dem Video im Hintergrund wird eher indirekt kommuniziert, nur ein Mal stellen sich alle AkteurInnen links und rechts im Spalier vor die Leinwand. Es ist kurz vor dem Tod von „L.“.
Sowohl Platel als auch Cassol haben eine große Liebe zur Musik des 18. Jahrhunderts und auch mehrfach in Fusion-Projekten damit gearbeitet. In diesem Fall ist es schwierig, die Kooperation zu bewerten, oder wie sehr die Verbindung von Mozart, neuen Klängen und afrikanischen Weisen geglückt ist. Es lässt sich einfach nicht abstrahieren von der Wucht des Erlebnisses, das man beim Betrachten des sterbenden Antlitzes hat. Man sieht eine Nahaufnahme von der liegenden „L.“, welche die komplette Bühnenhinterwand als ein schwarz-weißes Bild ohne Ton in einer einzigen Einstellung, einer Plansequenz, umfasst. Die Sterbende liegt auf einem geblümten Kissen im Freien, döst, wacht auf, lächelt sogar, befeuchtet sich die trockenen Lippen. Immer wieder beugt sich jemand zu ihr, streichelt sie, spricht mit ihr. Über 1,45 Stunden vergehen, bis sie die Augen für immer schließt.
Bewegung im Publikum, starker Applaus, sogar Standing Ovations. Auch Ratlosigkeit und die Meinung, hier ungewollt als Voyeur in einem Kunstprojekt herhalten zu müssen, werden geäußert. Auch Kritik an der Amalgamierung der musikalischen Ebenen wird laut, aber vor allem Betroffenheit. Ein Abend, wo man vieles will, tanzen, weinen, sich fürchten oder freuen. Doch Platel hat schon Recht, dem Antlitz des Todes entkommt man nicht.
Alain Platel / Fabrizio Cassol / Les Ballets C de la B "Requiem" am 23. Februar 2019 im Festspielhaus St. Pölten