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Freitas1 webZwei sowohl inhaltlich als auch formal sehr unterschiedliche Performances prägten die zweite Woche beim steirischen herbst 2017: Dort, wo persönliche Erinnerung, zeitgeschichtliche Fakten, Übertechnisierung und Einsamkeit einander treffen, hat Jaha Koo, geboren 1984 in Südkorea, seine Performance „Cuckoo“ angesiedelt. Die kapverdische Tänzerin-Choreographin Marlene Monteiro Freitas geht in ihrem „Bacchae – Prelude to a Purge“ thematisch in groben Zügen von Euripides aus.

„Cuckoo“

Es ist ein flirrender Schnittpunkt und doch gewährt Jaha Koo nachhaltig Einblick in eine weitgehend unbekannte Kultur; in eine, die vor allem durch ihre Extreme fern ist, im Detail aber auch so manch Vertrautes aufweist.Cuckoo web

Drei Reiskocher der Marke Cuckoo stehen auf dem breiten Pult vor Jaha Koo, stehen für seine durchtechnisierte koreanische Welt, in der das Essen eine zentrale Rolle spielt (how do you do entspricht in Korea einer Frage wie: hast du gut gegessen?). Damit symbolisiert ein vollautomatischer Reiskocher die eine Seite; seine beiden „Kocher-Kollegen“ können zwar kaum mehr Reis kochen, aber stattdessen „reden“, „philosophieren“ und last not least auch herzhaft streiten – in freier Parallele zu; „Computer sind auch nur Menschen“; solche, die ihre Identität suchen, um sie ringen. Auf der Leinwand hinter Koo werden historische Entwicklungen aufgezeigt, eingestreut: In der Zange von Politik und Wirtschaft agieren, reagieren und kapitulieren die Massen letztendlich in Passivität. Und so berichtet der dazwischenstehende Koo mit ebenso ernster wie fester Stimme immer wieder kurz von dem, was auch anderswo als „Jugend ohne Zukunft“ bezeichnet wird. In seinem Land außerdem ergänzt (und in anschaulichen erzählten oder gefilmten Beispiele während der Performance belegt) durch eine nicht endende Alltagssituation „under pressure“ – bedrohlich dampft der reiskochende Reiskocher …

Freitas2 web„Bacchae – Prelude to a Purge“

Durch die von Beginn an offene Bühne sieht sich der Zuseher in Marlene Monteiro Freitas' Stück unmittelbar vor allem mit zeitlos Allgemeingültigem konfrontiert und wird beim eigentlichen Start der Vorstellung letztlich in stark zeitgenössisch Verankertes versetzt: in ein hektisch überdrehtes, unstrukturiert sinnentfremdetes Treiben. Um dann, in der ersten durchchoreographierten kleinen Szene (im Zentrum ein nackter, vorgeblich männlicher Po von hinten, der durch vorgebeugten Oberkörper zum „Tisch“ umfunktioniert ist), sofort und in Anlehnung an tradiert dichotomisches Denken Aufklärung zu erfahren: Es müsse grundsätzlich alles auf den Kopf gestellt, umgedreht werden – grenzenlos. Was zur Folge hat und/oder haben könnte: Jeder Sch… wird kommuniziert (das Mikro ist an der hinteren Körperöffnung platziert). Derartige (unbegrenzte) Ironie und Widersprüchlichkeit ist nur ein kleiner, wenn auch charakteristischer und vielfach variierter Teil dieser Performance; grenzenlose Fantasie und die damit verbundene Freiheit ihr größter Teil; kongenial ergänzt von der dadurch für den Rezipienten gegebenen Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten. Oder anders gesagt: Ein Flächenbrand an Assoziationen wird da von Freitas und ihrem 12köpfigen Ausnahme-Team von PerformerInnen rauschhaft entfacht; nimmt den Zuseher mit und brennt kraftvoll lodernd – wenn auch mit einem kleinen Zwischenhänger und einer überdehnten Schlusssequenz – gute zwei Stunden lang. Herzhaft-kritisch, tabulos, humorvoll, schräg und vor allem sinnlich; dynamisch in treibenden Rhythmen verankert (zwischen freien, südamerikanischen und schließlich denen von Ravels Bolero), geschaukelt in der einen oder anderen bekannten Melodie. Bei allen Loops und sonstigen Schleifen wird der zeitweilig atemlose Zuschauer weiters durch experimentelle Ton- und Geräuschkonglomerate mit allem auf der Bühne Verfügbarem in ungebrochen aufmerksamer Anspannung gehalten. Selbstverständlich nicht zuletzt, sondern vor allem auch durch die grandios eingesetzten Trompeten, mit denen die fünf Künstler freilich ebenfalls äußerst unvorhersehbar „eigenwillig “ umzugehen verstehen. So wie mit ihrer Mimik, ihrer Stimme, ihrem Körper und auch sonst allem, was ihnen in die Hände gerät und einen guten Performer ausmacht. Ihr Agieren ist nahezu nahtlos ineinandergreifend in das, was die anderen, vordringlich darstellenden KünstlerInnen an geballter Kraft, Energie und vor allem an differenziertem Bewegungs-Können mit überraschungsgespickter, gleichermaßen irritierender wie berührend simpel-harmloser, aber ausnahmslos perfekter und - ja „wohltuender“ Verrücktheit auf die Bühne zaubern. Die „Nebeneffekt“ sind hoffentlich nicht unerwünscht: Denn kaum einer der Zuseher wird etwa jemals wieder einen Notenständer emotionslos oder gar assoziationsfrei wahrnehmen können: Zu faszinierend sind seine unzähligen bezaubernden, zügellosen, gesellschaftskritischen, aber auch witzigen, (zweck)entfremdeten Handhabungen im Laufe der Performance.Freitas3 web

Einer der Schlüssel zur Zauberkraft ihres aller Tuns (der anhaltenden Schlussapplaus erfolgte als standing ovation) mag die faszinierende Tatsache sein, dass sie einerseits überaus präsente Vermittler ihres ungewöhnlichen musikalischen und darstellerischen Könnens sind, ihr Publikum nahezu vor sich hertreiben, und andererseits sie selbst von ihrem Wollen und Tun „Getriebene“ zu sein scheinen. Darauf könnte auch ihr zeitweiliges marionettenartige Gehabe hinweisen, das zweifellos aber genauso als vielschichtige Metapher zu deuten ist.

Freitas4 webWie tief ernst sie es mit ihrer Sache insgesamt meinen, wird in kleinen Textpassagen besonders deutlich; in humorvollen: „Wohl hat Gott den Menschen erschaffen, auf dass er Trompete spiele“, in selbstkritisch reflektierenden und tonverzerrt wiedergegebenen, so wie in den verbalisierten Visionen, die zum Leben erweckt werden sollten (könnten); letztere wohl in inhaltlichem Bezug und in Fortsetzung zum eingespielten Video einer Geburt.

Dass im Ausgleich dazu einer uneingeschränkten, nahezu kindlich unvoreingenommenen Spiellust – mit der eigenen Stimme etwa – viel Raum gegeben wird, ist in seiner qualitätsvollen Ehrlichkeit nicht nur nachfühlbar und zur Nachahmung anregend, sondern macht diese hier zu erfahrenden, insgesamt überbordenden Angebot an Denk- und Empfindungsanstößen ganz besonders greifbar und lebendig.

Jaha Koo: „Cuckoo“, Uraufführung im Rahmen von steirischer herbst am 5. Oktober 2017 im Festivalzentrum

Marlene Monteiro Freitas: „Bacchae – Prelude to a Purge“. Österreichische Erstaufführung im Rahmen von steirischer herbst am 7. Oktober 2017 im Schauspielhaus Graz