Sie wirken futuristisch, wie von einem anderen Stern. Elf Tänzerinnen und Tänzer des „Ballett of Difference“, der neuen freien Kompanie von Richard Siegal, tanzen die Uraufführung „My Generation“. Ausgestattet vom Designerlabel Chromat mit Objekten mit Schwimmwestencharakter – mal wurde eine Schulter grotesk erweitert, mal ein halber Faltenrock aus Gummischläuchen angedeutet – erinnern die Kostüme an fremde Zivilisationen und Haute Couture gleichermaßen.
Das Crossover-Ballettvokabular des gebürtigen US-Amerikaners und Wahlmünchners Siegel zu elektronischen Musik von DJ Haram oder ATOM TM verstärkt den Eindruck, das zeitgenössische Ballett implodiere im globalisierten Kapitalismus. Ob es sich dabei um Kritik an Zuständen oder um Selbstaufgabe in denselben handelt, bleibt dabei beunruhigend nebulos.
In der 15. Ausgabe von „Dance“, des Internationalen Festivals für zeitgenössischen Tanz der Landeshauptstadt München, zeigt die künstlerische Leiterin Nina Hümpel innerhalb von elf Festivaltagen (11. bis 21. Mai) in 130 Vorstellungen zwanzig Produktionen, darunter sechs Uraufführungen und sechs deutsche Erstaufführungen in unterschiedlichen Veranstaltungsorten. Hümpel, deren roter Faden sich an den humanistisch-konnotierten Begriffen Diversität, Toleranz und Offenheit orientiert, baut auf die Bandbreite des zeitgenössischen Tanzes. Neben expressiv-virtuosem Ballett, provokativer Performance, Tanz und neue Technologien oder tänzerischer Installationen bietet sie theoretische Formate, etwa eine Ausstellung über die Historie der lokalen Community und ein interdisziplinäres Symposium.
Just das dreitägige Symposium „Das Rauschen unter der Choreographie. Überlegungen zu Stil“ von Katja Schneider und „Access to Dance“ entpuppte sich als Leckerbissen, da der Austausch den Blick für die künstlerischen Beiträge schärfte und die sinnlichen Erfahrungen vor Ort vice versa in den wissenschaftlichen Diskurs einflossen. Die Tatsache, dass neuerdings Fragen nach Stil debattiert werden, lässt aufhorchen. Galt es bisher als konsensuales Credo, wonach zeitgenössischer Tanz keinen Stil bedient bzw. bedienen will, so bröckelt dieser Common Sense aufgrund der fortschreitenden Geschichte. Nach 30 Jahren eigenwilliger Existenz ringt man nach Worten, um dem sich unbeabsichtigt herauskristallisierenden Formenkanon habhaft zu werden. Dabei hapert es noch, denn erstens widerspricht jede Kategorisierung dem aktuellen Paradigma des Prozessualen und zweitens enthält der resümierende Blick Aspekte des Todes. Und, wer stirbt schon gern?
Wurde in den 1980er Jahren das Auflösen tanztechnischer Grenzen favorisiert, so arbeitete man in den 1990er Jahren konzeptuell, körperzentriert und vielfach bewegungslos, um ab der Nullerjahre auf trashige Selbstinszenierung zu fokussieren. Letzteres wirkt bis in das eingangs beschriebene „My Generation“ des 48-jährigen US-Amerikaners und Wahlmünchners Siegal fort, dessen Inszenierungsstrategie den klassischen Spitzentanz mit popkulturellen Zeichen infiltriert.
Glücklicherweise hebt die Festivalpraxis die Theorie aus den Angeln. Vor allem die Beiträge des außereuropäischen Tanzes entziehen sich einer Festschreibung. Während der Belgier Wim Vandekeybus und seine Kompanie „Ultima Vez“ in der brandneuen Kreation „Mockumentary of a contemporary savouir“ mit feiner Klinge einen humorvoll-postdramatischen Science-Fiction in Szene setzt, die allem Apokalyptischen zum Trotz auf höchsten Niveau amüsiert, so verunsichert das Frauen-Quartett „Minority“ des jungen Choreografen Yang Zhen aus China nachhaltig. Zhens schräge Ästhetik aus Comics, persönlichen Erzählungen, Erinnerungen und Show, deren gesangliche Apotheose auf China am Stückende vermutlich die Zensur umschifft, machte neugierig. Neugierig, mehr zu erfahren über Politik, Alltag und Konfliktfelder einer Gesellschaft, die man üblicherweise nur punktuell und medial vermittelt kennt.
Die härteste Kost wurde überraschend sonntags um 5 kredenzt. Statt Konversation, Tee und Keksen, servierte Daina Ashbee ihre Performance „Unrelated“. In diesem preisgekrönten Duett thematisiert die junge Choreografin das Verschwinden von und die Gewalt an indigenen Frauen in Kanada. Jegliche Stildebatte scheint angesichts dieser Tragödie obsolet. Das Vorurteil, wonach Gesellschaftskritik in der Kunst meist ästhetisch platt wirkt, straft Ashbee jedoch Lügen. Auf leerer Bühne, vor grauer Stellwand agieren Areli Moran und Paige Culley meist nackt, mit von ihren langen Haaren verdeckten Gesichtern. Die Art, wie sie sich bewegen, imaginiert das mörderische Gegenüber. Man spürt die Bedrohung im Raum, wenn die Frauen ziellos, traumatisiert herumtaumeln. Man hält den Atem an, wenn die Frauenkörper laut an die Wand schlagen oder ihre Becken zusammenzucken. Die Art, wie minimalistisch und sensibel Ashbee die Bewegungen der Frauen choreografiert, wie filigran sie Zärtlichkeit, Sehnsucht und Zusammenhalt durchschimmern lässt, wie überzeugend sie die Requisiten abstimmt, wie atmosphärisch sie die Lichtdramaturgie setzt und wie stimmig sie Stille und Wummern verwendet, das zählt zu den Höhepunkten des ersten Festivalwochenendes.
"Dance" München läuft noch bis 21. Mai