Kronprinz Rudolfs Rolle mit Bart und brüskem Verhalten passt ausgezeichnet zum Ausnahmetänzer Sergei Polunin, der die Hauptrolle beim Gastspiel des Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheaters in München verkörperte. Auch dessen psychopathische, düstere Wesenszüge liegen dem sprunggewaltigen Ukrainer. Unlängst ist Steven Cantors Film „Dancer“ über den „Superstar in Schläppchen“ mit ganz persönlichen, dämonischen Schattenseiten auf DVD herausgekommen.
Thematisiert werden darin neben dem kometenhaften Aufstieg auch Selbstzerstörung und Polunins beinah erfolgter Bruch mit dem Tanz. Als 22-Jähriger hatte er da gerade mit stupender Leichtigkeit den Herzbuben in Christopher Wheeldons „Alice im Wunderland“ kreiert. Nun ein gigantischer, musikalisch wie stilistischer Kontrast! Wer Karten ergattert hatte, konnte ihn – drei Tage nach der Münchner „Alice“-Premiere – in Kenneth MacMillans Drama „Mayerling“ erleben, das 1978 beim Londoner Royal Ballet uraufgeführt wurde. Eine historisch-biografische Tragödie in imperial-aufwendiger Ausstattung von Nicholas Georgiadis. Hervorragend getanzt von der vormaligen, mitgliederstarken Moskauer Kompanie des neuen Münchner Ballettdirektors Igor Zelensky.
Die mit einem Totenschädel als Requisit an Hamlet angenäherte, große emotionale Männer-Partie forderte Polunin über drei Akte hinweg darstellerisch wesentlich mehr ab als Grigorovichs recht einfarbiger Crassus in „Spartacus“. Mit subtiler, expressiver Steigerung verkörperte er den frustrierten Gatten und Womanizer mit brachialen Neigungen plus den psychisch-krankhaften Melancholiker und abgründig vom Sterben besessenen Charakter. In Bestform.
Nach über zwei Stunden Spielzeit eskaliert der Lebensüberdruss des politisch gegen seinen Vater Kaiser Franz Joseph opponierenden österreichischen Thronfolgers. Er erschießt zuerst Mary Vetsera, seinen furchtlos-leidenschaftlichen Schwarm, dann sich selbst. Die erste Gastspiel-Aufführung am 6. April sorgte für zusätzliche Aufregung: Natalia Somova, die kecke blonde Interpretin der zum Selbstmord mit Rudolf bereiten 17-Jährigen, verletzte sich im 2. Akt – vom Publikum nahezu unbemerkt.
Eilig aus dem Zuschauerraum auf die Bühne gerufen, sprang ihre dunkelhaare Kollegin Ksenia Shevtsova für das tragische Finale bravourös ein. Was für eine gefühlsstarke Leistung! Und technisch ein Wunder, dass sie bei Polunins wilden Schleuderhebungen nur einmal kurz – statt in die Luft katapultiert zur werden – über dessen Rücken abrutschte.
Ausgangspunkt für Rudolfs seelische Qualen ist die ihm aus dynastischen Gründen aufgezwungene Vermählung mit Prinzessin Stephanie von Belgien. Ein ahnungsloses Julia-Pendant, das er – übel drauf – in der Hochzeitsnacht knallhart mit einem Revolverschuss schockt. So lässt er seinen Frust aus über Kaiserin Elisabeth, seine Mutter, die ihm Verständnis und Zuneigung verweigert.
Choreografisch hat der Brite MacMillan, ein Meister purer Tanzerzählung, in seinem Panorama der wohl berüchtigtsten Episode am Ende der Habsburger Monarchie fast das komplette aristokratische Personenarsenal untergebracht. Hintergrundwissen parat zu haben, kann hier nicht schaden, um die Figuren im Handlungsablauf schnell zu identifizieren. Das Wesentliche (Rudolfs sexuelle Ekstasen wie depressive Eskapaden) spielt sich vorwiegend in ruhigen Soli oder ungewöhnlich-akrobatischen Pas de deux voll von Würfen, Windungen und heftigen Liebespassagen am Boden ab.
Akustisch werden die opulenten Stimmungsbilder von Franz Liszts „Eine Faust-Symphonie“ und verschiedenen Klavierstücken genährt (Arrangement: John Arthur Lanchbery, einfühlsam gespielt vom Bayerischen Staatsorchester unter Anton Grishanin). Man staunt, wenn plötzlich die gesamte Wiener Hofgesellschaft Franz Josephs singender Mätresse Katharina Schratt (interpretiert von Mezzosopranistin Heike Grötzinger) lauscht. „Mayerling“ ist gewiss kein Ballett für alle Tage. Als Gastspiel innerhalb der BallettFestwoche aber hat die sehenswerte Produktion absolute Berechtigung.
Münchner Ballettfestwoche: „Mayerling“ mit dem Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater am 6. April in der Staatsoper München