Philip Glass zum 80. Geburtstag. Die schier unendliche Palette menschlicher Abgründe zieht Yuki Mori immer wieder an. Seit fünf Jahren leitet der 1978 in Kobe geborene Japaner am Theater Regensburg die Tanzsparte. Dabei schreckt er nicht davor zurück, das städtische Publikum mit auf Reisen abseits thematisch eingängiger oder gefälliger Themen zu nehmen. Nun setzte er „Les Enfants terribles“ von Philip Glass als spartenübergreifendes Projekt in Szene.
Dass er europäische Einflüsse gern zeitgenössisch-sportiv und tänzerisch-dynamisch mit jenen seiner asiatischen Heimat in Einklang bringt, belegen sein „Le Sacre du Printemps“ und „Bolero“. Körperlich flexibel tanzen seine Kompaniemitglieder dabei meist geschlechterundifferenziert mit viel Bodenkontakt in Solo- oder Gruppenparts und verzwirbelten Duetten durch den abstrakten Fluss vergehender Zeit und findig gestaltete Räume aus narrativen Elementen.
Zu „Am Rand der Stille“ inspirierten ihn die grenzüberschreitenden Figuren aus Haruki Murakamis Romanen. In Federico García Lorcas „Bernarda Albas Haus“ setzte Mori sich mit der Abartigkeit eines matriarchalisch bestimmten Lebens in strikter Abgeschlossenheit auseinander. Phänomene wie Angst und Grusel versuchte Regensburgs Chefchoreograf ganz nach filmtechnischer Manier in Bewegung zu fassen. Sein Tanzkrimi „The House“ wurde 2016 prompt für den Theaterpreis FAUST nominiert. Zu Beginn dieser Spielzeit schickte Yuki Mori sein bestens zusammengewachsenes Ensemble in „Loops“ auf einen ergreifend-komischen Trip und die Suche nach dem Kern verschiedener Beziehungskonstellationen in Zeiten von Krieg und Frieden. Ein emotional aufgeladener Bilderreigen menschlicher Gefühle und Verhaltenseigenarten zu Simeon ten Holts „Canto Ostinato“.
Fast zu kompromisslos konsequent in der Wahl düsterer Stoffe und hintergründig belasteter Figuren, die zwischen Empfindungsfronten, Traum und Alptraum, Realität und Fiktion oder Schmerz und Sehnen nach Zuneigung, Liebe, Schutz und Glück oszillieren, ließ Yuki Mori nun „Les Enfants terribles“ von Philip Glass als spartenübergreifendes Projekt folgen. Die surreale, zuletzt in Bordeaux, an Berlins Komischer Oper oder dem Royal Opera House Covent Garden einstudierte Tanzoper entstand 1996 in enger Kooperation mit der amerikanischen Choreografin Susan Marshall und basiert auf Jean Cocteaus gleichnamiger Romanvorlage von 1929.
In Regensburg tönen bei der Premiere am 18. Februar zwei offene Sauter-Klaviere und ein geschlossener Steinway-D-Flügel aus dem Orchestergraben – in punkto Klangbalance keine optimale Kombination. Zumal es etwas dauert, bis Christine Lindermeier, Levente Törok und Satomi Nishi (musikalische Leitung) so recht in den auf sechs Hände verteilten Drive der minimalistisch-verschraubten, soghaft-dahinperlenden Komposition hineinfinden. Dafür gehen Yuki Moris‘ zehn Tänzerinnen und Tänzer gleich zu Beginn als gut eingespieltes Nachtmahr-Kollektiv in die Vollen.
Noch vor den Sänger sondieren sie das Terrain, schwirren in nachtblauen Einheitsanzügen (Kostüme: Antonia Fietz) und tiefen Pliés über die Bühne. Sie rennen und springen, bilden Formationen und Reihen, verharren im Laufschritt, greifen nacheinander, stützen, stoßen und bezwingen sich oder verklumpen zu Haufen. Moris geisterhafte Schattenwesen sind geschäftige Dämonen des Unterbewussten. An sich emotionslos verkörpern sie Gedanken, Gefühle, Zustände oder Stimmungen. Später verlieren sich ihre Interaktionen teilweise zwischen Mobiliar und in dunklen Ecken der von Dorit Lievenbrück schräg auf einer Drehbühne arrangierten Zimmerlandschaft. Das Blickfeld dominieren zwei altmodische Metallbetten auf Rollen. Sie sind das Existenzzentrum der beiden exzentrisch veranlagten Geschwister Paul (Bariton Matthias Wölbitsch) und Elisabeth (Sopranistin Anna Pisareva).
Jeder dem anderen genug, ziehen beide Kinder sich aus der Welt in das Wohnungsrefugium ihrer kranken Mutter zurück. Das abnorme Verhalten löst ein Schneeballwurf aus, mit dem Dargelos seinen Bewunderer Paul zu Boden streckt und folgenschwer verletzt. Den „Schlag eines Marmorherzens“ nennt es poetisch die Stimme des Erzählers. Sie gehört dem Schauspieler Gunnar Blume und kommt – leider nicht immer ideal getimt – aus dem Off. Von Mori mittels Video und Tanz eindrücklich bebildert, nimmt die sich langsam zum Psychodrama zuspitzende Tragödie ihren Lauf.
Zugang zum inzestuösen Kosmos der bald mutterlos heranwachsenden Geschwister haben nur Pauls Schulfreund Gérard (Tenor Yinjia Gong) und Agathe (Mezzosopran Judith Beifuß), eine Arbeitskollegin Elisabeths, die Dargelos bis aufs Geschlecht gleicht. Als sie zur Wohngemeinschaft hinzustößt, sind Dispute und emotionale Wendungen vorprogrammiert. Was die jeweiligen Gesangspassagen dazu inhaltlich hergeben, lässt Yuki Mori seine Interpreten beflissen ausspielen. Gelegentlich fügt er ihrem Treiben virtuos getanzte Kommentare hinzu. Besonders schön gelingt dies bei Pauls Schlafwandelszene. Da greift Matthias Wölbitsch, im übergroßen Winterpulli auf dem zerwühlten Bett kniend, Bewegungen seines tanzenden Alter Egos auf. In seiner Traumvision fliegt eine Schneeeule vorbei. Kurz vor dem Fall umringen ihn mehrere Tänzer und hebeln ihn über Hürden nahezu schwebend zurück auf sein Bett.
Dass Tänzer und Sänger miteinander verschmelzen bzw. sich die kontroversen Facetten einer Figur teilen, bleibt in Moris Inszenierung jedoch selten. Und die Chance, das Promiskuitive des Stücks sowie die subtilen Abhängigkeiten bzw. Beziehungsebenen des Protagonisten-Quartetts choreografisch drastischer herauszuarbeiten, wird verschenkt. Als Paul und Agathe sich ihre Liebe eingestehen, greift Elisabeth zur Intrige. Sie verkuppelt Gérard, der ihr ergeben ist, mit Agathe. Verzweifelt einsam stirbt Paul an einer Überdosis Opium und entreißt mit seinem Freitod auch der Schwester endgültig den Boden unter den Füßen. Sehenswert – obwohl man Mori zugetraut hätte, mehr als den linearen Erzählstrang aus Cocteaus Geschichte zu holen.
Yuki Mori „Les Enfants Terribles“ („Kinder der Nacht“), Premiere am 18. Februar, weitere Vorstellungen am 16., 22., 29. April, 5. Juni, 4. Juli 2017 im Theater Regensburg