Auf seidenen Schwingen. „Die Tänzerin“ – ein Film von Stéphanie Di Giusto – widmet sich der ungewöhnlichen Frau und bedeutenden Künstlerin Loïe Fuller (1862-1928) – Stilikone der Belle Epoque. Pionierin der Tanz- und Lichtkunst – ohne Geschichten zu erzählen, rein auf den Schauwert der Aufführung selbst bezogen. Das war und das konnte Marie Louise Fuller, die in Fullersberg/Illinois zur Welt kam.
Im Umfeld ihres Vaters (Besitzer einer Landwirtschaft und Schenke, der bei Veranstaltungen auf der Geige spielte) lernte sie früh das Vaudeville und Varieté-Theater kennen. Bereits in der Kindheit stachelte sie die Idee eines künstlerischen Daseins an. Stets offen für die Neuerungen von Wissenschaft und Technik wie Elektrizität. Später ging sie mit Buffalo Bill auf Tournee. Daher wohl der Einfall der Regisseurin Stéphanie Di Giusto, in die Story mit aufwühlend-heftigen Bildern einer Rodeo-Show einzusteigen. Mancher Tanzenthusiast weiß bereits: Den im Mittleren Westen der USA beliebten Skirt Dance entwickelte Fuller auf eigene Art weiter.
Dass Lebenssplitter wie diese für ein Movie-Porträt bestens geschaffen sind, hat die französische Filmemacherin geschickt erkannt. „Die Tänzerin“ ist Di Giustos Regiedebüt im Spielfilmbereich und zeichnet in atmosphärisch dichten, eindrucksvoll umgesetzten Szenen den Werdegang einer interessanten, schonungslos eigensinnigen, androgyn-sinnlichen Frau an die Spitze einer salonverliebten, kunst- und theateraffinen Gesellschaft nach. Frei nach Giovanni Listas 1994 erschienener Biografie. Gewürzt mit viel Zeitkolorit. Es wird deutlich: Fuller folgte ihren kreativen Eingebungen stur und bis zur totalen körperlichen Erschöpfung.
Nach ersten Erfolgen in den Pariser Folie Bergères eroberte sie unter dem Künstlernamen Loïe Fuller die Kunstszene der Avantgarde. Als Erfinderin effektvoller Schleiertänze (berühmt: ihr in zahlreichen Aufnahmen, Bildern und Skulpturen festgehaltener Serpentinentanz) wurde sie zur Schlüsselgestalt des Jugendstil. Und sie war geschäftstüchtig: Für ihre Inszenierungen mit wallenden, sich in Wellen und Spiralen um den Körper schraubenden Seidenkostümen, armverlängernden Stabvorrichtungen, ausgeklügelter Beleuchtung, farbigen Projektionen, Gleittüren und Spiegelvorrichtungen erhielt sie mehrere Patente.
Den entscheidenden Kick ihrer Karriere brachte der Wechsel von New York nach Europa. Mit bahnbrechenden Soloauftritten und eigener Schule ebnete Fuller auch jüngeren Kolleginnen der neuen, naturalistisch inspirierten und vom Korsett des klassischen Balletts befreiten Modern-Dance-Bewegung den Weg zum Ruhm. Beispielhaft hebt der Film hier Isadora Duncan hervor – eine Rolle, die Johnny Depps grazile, 17-jährige Tochter Lily-Rose zwar etwas an der Historie vorbei, aber im Großen und Ganzen gar nicht so schlecht interpretiert.
Um aus Loïe Fullers überliefertem Lebenslauf einen durchweg packenden Film zu destillieren, hätte etwas mehr Authentizität gewiss nicht geschadet. So wird die emanzipierte Visionärin Fuller unnötig stark einem amourös-mehrdeutigen Beziehungsgeflecht ausgesetzt – unter anderen zu dem (rein fiktiven!) aristokratischen Gönner und drogensüchtig-depressiven Dandy Louis (glaubhaft: Gaspard Ulliel). Allen biografischen Ungereimtheiten zum Trotz: Es fasziniert, mit welch spröder, mal öffentlichkeitsscheuer, mal burschikos-anmutiger Passion Soko – eine junge Schauspielerin/Popmusikerin aus Bordeaux – die Außergewöhnlichkeit dieser Künstlerin auf die Leinwand zaubert. Allein schon deshalb lohnt der Kinobesuch!
„Die Tänzerin“ läuft seit 3. November in den deutschen Kinos