Wie in einer Zeitschleife gefangen. So muss sich Halbsolist Adam Zvonař in der Rolle von Albrechts Vertrautem Wilfried vorkommen. Wenn der Pausenvorhang zur sechsten Vorstellung des Balletts „Giselle“ fällt, hat er – ewig vergeblich warnender Handlanger – vier noblen Jungspunden gedient. Als Albrecht verdrehten erst Sergei Polunin, dann Münchens neue feste Super-Principals Osiel Gouneo (ein heranreifender Magnet) und Vladimir Shklyarov (absolut auf dem Höhepunkt) sowie Vadim Muntagirov, ein Extra-Gast vom Royal Ballet London, mit jeweils atemberaubend technischer Verve unterschiedlich bezaubernden Giselle-Interpretinnen den Kopf.
Gleich zweimal gab Natalia Osipova das leichtgläubig-tanzvernarrt, schüchterne Winzermädel – unvergleichlich in ihren wattebauschig sich vom Boden katapultierenden Luftsprüngen eines überirdischen Geisterwesens. Ihr folgte die jugendlich-frische Maria Shirinkina, die im Zusammenspiel mit ihrem Ehemann Shklyarov die insgesamt stimmigste Ausdifferenzierung der über zwei völlig gegensätzliche Akte angelegten Partie präsentierte. Ihren Albrecht brachte sie dahin, sich zu Adolphe Adams Schlussklängen auf ihr Grab zu werfen, statt mit reuigem Fernblick die letzten Schritte Richtung Rampe zu gehen.
Dies tat Shklyarov übrigens vier Tage später durchaus, nachdem ihn Svetlana Zakharova als Giselle vor den mordlüsternen Wilis gerettet hatte. Neben Osipova ist die große Zakharova Münchens zweiter weiblicher Repertoire-Gast. Langgliedrig und grazil von Gestalt ließ sie – betont langsam in ihren Tempi – mit akkurater Verzögerung insbesondere in den Bewegungen ihrer Arme jenen romantisch-ätherischen Tanzstil der legendären Marie Taglioni durchschimmern, der zum Erfolg der weißen Akte beitrug. An diesem Abend steigerte sich das Ringen zwischen Giselle und Myrtha (Prisca Zeisel) um den fast schon zu Tode erschöpften Mann zum regelrechten Frauen-Duell.
Die erste Aufführungsserie des Bayerischen Staatsballetts beschloss das um eine Woche verschobene Debüt der Moskauerin Ksenia Ryzhkova (übernommen vom Stanislavsky Musik Theater). Sein Versprechen, die besten Tänzer nach München zu holen, hat Ballettchef Igor Zelensky schon mal eingelöst. Welche Profis hier am Werk sind, zeigte das Handicap Bühnennebel: Erstickte eine übervoluminöse Wolke die wunderbar kaltherzig spielende Prisca Zeisel als Myrtha bei der Premiere fast ganz, ließ bodenwaberndes Trockeneis-Nass sie beim zweiten Mal auf ihren Spitzen kippeln und rutschen. Aber kein Wimpernzucken störte die starke Aura ihrer Figur. Genauso wenig wie bei Osipovas Giselle, die kurz darauf für Sekunden wirklich zu Fall kam. Maschinen sollten sich eigentlich besser in den Griff bekommen lassen …
Gefühlsstimmungen, die bei der Uraufführung vor 175 Jahren aktuell waren, mit künstlerisch-individuellem Ausdruck auf spektakulär hohem technischen Niveau brillant neues Leben einzuhauchen – das ist dem Bayerischen Staatsballetts im ersten Spielzeitmonat gelungen. Bei Besetzungswechseln hält sich Zelensky gerade in Gruppenpartien noch sehr zurück. Vor einem immer gelöster agierenden Ensemble absolvierten Tatiana Tiliguzova und Alexey Popov flankiert von Irina Averina, Freya Thomas, Jonah Cook und Dmitry Vyskubenko viermal hintereinander schlichtweg perfekt die Solovariationen des Pas de six, bevor Cook (mit Mai Kono) und Vyskubenko (mit Tiliguzova) übernehmen durften. Ivy Amista wiederum konnte nach ihrer ersten Myrtha Shuan Li als Moyna ablösen. Deren fließende Passagen (sonst noch getanzt von Tiliguzova und Zeisel) wusste sie schön geschmeidig herauszuarbeiten. Lediglich zweimal trat Matej Urban – ausgesprochen glaubwürdig als Hilarion – seine Partie an den etwas distinguierter mimenden Javier Amo ab.
Angesichts dieser so überschaubaren Rollenverteilung in einer 70-köpfigen Kompanie fragt man sich, welche Trümpfe Zelensky demnächst ausspielen will, wenn ab 7. Oktober drei Paare Jerome Robbins' „In the Night“ und neun Männer (welche?!) Aszure Bartons „Adam is“ wieder aufnehmen. George Balanchines neoklassische „Sinfonie in C“ gipfelt in einem fulminanten Allegro Vivace für 38 Damen und 12 Herren. Ohne Zweifel eine weitere Feuertaufe! Nach der geht es sofort (ab 15. Oktober) mit Patrice Barts Handlungsklassiker „La Bayadère“ weiter. Nach den „Giselle“-Erfahrungen ist sicher: Man muss mehrmals hin!
Bayerisches Staatsballett „Giselle“ am 25. und 29. September sowie am 2.Oktober im Nationaltheater München