Europa? Es war einmal! Und zwischen seinen Trümmern drehen sich nun sechs Überlebende im Kreis: Im Walzertakt und in ihren Gedanken; in persönlichen Erinnerungen und Träumen so wie um nüchterne Statements zum Geschehen rund um die Apokalypse. Die griechische Company Blitz Theatre Group zeigte erstmals in Österreich ihre Erfolgsproduktion „Late Night“. In „State“ beschäftigten sich Ingri Fiksdal und Jonas Corell Petersen an diesem Wochenende mit (tänzerischen) Ritualen.
Die Dystopie der Blitz Theatre Group. 2004 in Athen von Angeliki Papoulia, Christos Passalis und Giorgos Valais gegründet, entwickelt das Theaterkollektiv seither zeitgenössische Stücke, die sich im Zusammenspiel von Performativem, Musik und Tanz um gesellschaftlich relevante Themen drehen. Die Stoffe sind der Literatur, der Historie oder Gegenwartskultur entnommen. Dieses Mal ist es eine Dystopie, kreiert mit einfachsten Bühnenmitteln: Schutt begrenzt an drei Seiten ihren Bewegungsraum, eine Sesselreihe die 4., hintere Seite. Ein Uralt-Fernsehgerät in der einen Ecke, daneben Gläser und Wasser auf einem mickrigen Tischchen, ein Ventilator in der anderen Ecke und ein Standmikrofon rechts vorne. Kreiert auch mit nur relativ wenigen und häufig einfachen Sätzen: Mit Erzählfragmenten, die weder chronologisch noch sonst wie zusammenhängen, aber von offensichtlich subjektiver Bedeutung für die jeweiligen Sprecher sind; oder aber auch mit wenigen solchen, die von schmerzender Allgemeingültigkeit zeugen. Sie brechen aus ihnen förmlich heraus – während die Personen „vor sich hin sitzen“ oder aber gerade tanzen. Kraftlos, teilnahmslos tun sie dies. So wie auch ihre Satztrümmer formuliert sind; manchmal auch ein wenig ungläubig und hie und da mit einem fernen Lächeln – schöne Erinnerungen sind es wohl, die sich hier für wenige Augenblicke einen entspannenden Weg bahnen.
Und so ähnlich als Entspannung gedacht ist zweifellos auch das Bedürfnis nach unterhaltenden Illusionen, die die Darsteller in Form von kleinen, entwaffnend kläglichen Kunststücken (ein Tuch wird in die Höhe geworfen und mit dem Kopf aufgefangen, ein Löffel verbogen, verbundene Hände aus eigener Kraft gelöst) aus dem Nichts der Realität zu zaubern versuchen. Und hilfloser, makabrer Zeitvertreib eben auch als Metapher das Tanzen.
Die zum Teil bekannte Walzer- und vormals gängige Unterhaltungsmusik erzeugt beim Zuseher freilich keinerlei Wohlfühl-Atmosphäre; verschärft eher noch die Sterilität eines trostlosen Wartens – auf … worauf? Diese dargestellte Leere, diese fiktive Aussichts- und Haltlosigkeit im wahrsten Sinne entspricht in einigen Bereichen beinhart dem, was auch der Zuseher erlebt, da es ja keine Handlung im eigentlichen Sinne, fast nichts zum Anhalten und Erwarten von Zukünftigem gibt. Und so entsteht eine Unmittelbarkeit des Geschilderten, eine Betroffenheit von nicht oft zu erlebender Intensität.
Im Gegensatz zu der zur Zeit oft eingesetzten, intendierten Überforderung des Publikums – im Sinne von zeitimmanentem, materiellem wie immateriellem Überfluss – ist es hier geradezu das Gegenteil, das sich eingräbt und beklemmend begreifbar macht, wie ein Leben ohne Zukunft – wie es für so manchen jungen Griechen derzeit außerdem nackte Realität ist – sich anfühlen mag.
Zusätzliche Wirkung haben Gedankensplitter (in deutscher Sprache projiziert) wie: „Es gibt keinen Ausweg. Es hat nie einen gegeben.“, „Es ist zu spät für eine Revolution“, „Uns war alles egal, wir haben nie gelernt“.
So mehrdeutig wie das Titel-Wort „State“ (der Staat, der Zustand; to state: etwas behaupten) ist diese Tanz-Performance-Musik- Produktion von Ingri Fiksdal (NO), verantwortlich für Konzept und Choreographie und Jonas Corell Petersen (DK), verantwortlich für Konzept und Dramaturgie, die in Koproduktion mit steirischer herbst am 30. September im Grazer Dom im Berg uraufgeführt wurde.
Es solle aber ohnehin auch kein expliziter Staat oder explizites Thema dargestellt bzw. geschildert werden, wie es im informativen Programmblatt heißt. Wiewohl – ebendort ist auch zu lesen: „We have tried to develope a new ritual setting to induce various states of mind for the audience. “
Was allerdings vom Zuseher tatsächlich mitgenommen werden kann, als Wesentliches mitgenommen werden soll – das bleibt nicht nur wegen eines oftmals recht obskuren oder durch Bühnenebel verschleierten Bühnenbilds eher im Dunklen. Fiksdal spricht das Dilemma selbst an: „Are we trying to pull off a ‘real’ ritual in a theatre context? And what would ‘real’ then mean?”
Die Werk-Entwicklung begann 2015 anhand von mehr als 50 modernen und historischen Tanz-Ritualen, einschließlich der Beschäftigung mit Theoretischem zu diesem Thema und mit Tänzern wie Martha Graham oder Mary Wigman, die von Ritualen inspiriert wurden. Das von Fiksdal und Petersen so wie von Lasse Marhaug (faszinierende Kompositionen, live auf vier eigens konstruierten Instrumenten präsentiert) und Henrik Vibskov (kreativen Kostüme) auf die Bühne gehievte „contemporary ritual“ ist aber schließlich kaum mehr als nett anzusehen; einzelne Bilder faszinieren auch und ein paar der zahlreichen Dreh-Frequenzen sind bewundernswert ob der doch recht gekonnten Technik und des dynamischen Bewegungsspiels. Allein: Man steht und bleibt als Uneingeweihter draußen und sieht dem in der Dynamik zwar wechselnden, aber letztlich keinen Spannungsbogen haltenden Treiben zu: mehr oder weniger interessiert, manchmal auch ein wenig gelangweilt, der zahlreichen Bewegungswiederholungen wegen oder auch beim Beobachten einfacher Abläufe, denen es an Kreativität wie an exakter Durchführung oder Übereinstimmung fehlt.
Da springt kein Funke über: Basierend auf dem Eindruck, dass diese Rituale – letztlich verständlicherweise – eben nicht aus dem Innersten der „Agierenden“ kommen, keine verwurzelte, gewachsene Tradition haben und also steril sind und bleiben, da die Künstler nicht mehr als Darsteller eines Konstrukts sind. Auch wenn (wiederum siehe Programmheft) dieses Problem der Choreographin bewusst ist: „… to get into a state or for immersion to happen, there hast to be a will. And I (Fiksdal) think this will has to come from both performer and spectator”, funktioniert es nicht wirklich.
Blitz Theatre Group: “Late Night” am 30. September im Hugo Wolf Saal Leibnitz
Ingri Fiksdal und Jonas Corell Petersen „State“ am 1. Oktober im Dom im Berg, Graz, beide im Rahmen vom Steirischen Herbst