Die Kunst des Mäanderns. Inês Carijó lässt ihren Brustkorb kreisen. Sie liegt inmitten des Raums. Ein Strichmännchen auf dem Rücken. Dann steht sie auf und überlässt das im Schwere Reiter mit weißem Tanzboden ausgelegte Bühnenrechteck ihrem Kollegen Àngel Duran. Der wiederum bleibt wie ein Schlafwandler am Rand kleben. Zuckt hier, zuckt dort, bis sein Körper zunehmend augenfälliger hin und her wippelt. So, als ob geschwinde Stromschnellen ihn wie Algenstränge umspülen.
Sowohl die gebürtige Brasilianerin, die erst im Juli ihren Abschluss an der Salzburg Experimental Academy of Dance machte, als auch ihr Kollege aus Barcelona sind neu in Stephan Herwigs Team. Einen subtilen Touch geschmeidiger und autokonzentrierter in der Qualität ihrer performativen Ausstrahlung und Moves, verstärken sie sehr gut die in der Münchner freien Tanzszene länger schon verankerten Tanzperformer Anna Fontanet, Maxwell McCarthy sowie Moritz Ostruschnjak. Und Herwig kann mit dem Personenquintett sein Talent für starke Kraftlinien und eine fein austarierte, punktuell spannungsgeladen knisternde Raumbespielung voll entfalten.
Das Publikum hat auf Stühlen längs der Breitseiten Platz genommen. Die beiden Quader an den Schmalseiten bleiben den fünf Tänzern vorbehalten, die sich in wechselnden Konstellationen die halbe Spieldauer lang fast nur in eine Laufrichtung vortasten: Kommen. Verweilen. Gehen. Dazwischen pendeln sich zwei oder drei von ihnen immer wieder mit andersartigen Bewegungsmotiven neu aufeinander ein. Begleitet nur von Michael Kunitsch’ dezentem Lichtdesign. Passend zum Titel der Choreografie „Schweifen“.
Als dann zwei Männer in einem Duett fast akrobatisch, langsam und kontrolliert miteinander ins Ringen geraten, mischt sich Musiksound (später vereinzelt ein Audiomix diverser Umgebungsgeräusche) in das abstrakte, mit tänzerischen Figuren gepinselte Gemälde. Der öde Fleck im Stimmungsbild: das Abdriften in eine Phase von Nichtstun. Dabei zieht Leerlauf wenig als strömungsphysikalisches Phänomen... Für die Choreografie bedeutet das folgende Konstrukt einer bedächtig sich vorwärts tummelnden menschlichen Woge die Ruhe vor dem Sturm.
Während die Crew sich voreinander auf den Boden drückt, verlangt das Balancieren des jeweils Letzten über die Rücken der Anderen hinweg viel Vorsicht und im Auditorium meditative Geduld. Zum richtig guten Finale hin formieren sich im hauptsächlich linearen Fluss ästhetisch schöne Gegenpole: Alle drei Männer tanzen synchron in eine Richtung; beide Frauen wirbeln an ihnen vorbei. Kollektiv werden die Schritte schärfer, das Geschlängel der Bodies exotischer und der Körpereinsatz kraftvoller und schneller. Nach einer Stunde ist die Sache – höchst professionell – vorbei.
Stephan Herwig: „Schweifen“ am 15. September (Uraufführung) im Münchner Schwere Reiter