Eine Sprache tief aus dem Inneren des Körpers. Sankai Juku, war wieder zu Gast bei ImPulsTanz, diesmal mit „MEGURI- Teeming Sea, Tranquil Land“. Ushio Amagatsu, der erfolgreiche Choreograf und Gründer der Gruppe, spricht mit seinen japanischen Butoh-Inszenierungen Zuschauer auf der ganzen Welt an, während die Austro-Japanerin Akemi Takeya mit ihrer Reihe „Lemonism X Japanism“ die japanische mit der westlichen Kultur zu verschmelzen sucht.
Die Bühne ist teilweise mit Sand bedeckt, vor einer Wand im Hintergrund, die Fossilien zeigt - versteinerte Seelilien – einem Blick ins Erdarchiv gleich. Ushio Amagatsu tritt auf und tanzt sein Solo „Der Ruf aus der Ferne“. Er scheint eins mit den ihn umgebenden Elementen. Die Szene ist cremefarben ausgeleuchtet – wie die Farbe der Erde, des Sandes. Vier Tänzer in der Bühnenmitte in Embryohaltung auf dem Rücken am Boden liegend, beginnen sich zu bewegen, “Die Veränderung des Meeresbodens“, Sequenz 2 der in sieben Abschnitte gegliederten Performance. Insgesamt acht Tänzer, vier jüngere und vier ältere, führen mit hoher Körperspannung, weiß gepudert, durch eine Symphonie aus Farben, Wasser und Licht im Dialog mit den Elementen der Natur und den inneren Gefühlsregungen.
„Meguri“ wird für Dinge verwendet, die sich innerhalb einer vorgeschriebenen Ordnung bewegen oder darum kreisen, um zyklische Systeme wie die vier Jahreszeiten, den Verlauf der Zeit oder Veränderungen, denen die Erde unterworfen ist. Es geht in den weiteren Sequenzen um von Menschen verursachte Verbrechen - an der Natur wie auch an anderen Menschen „Vorahnung – Ruhe – Zittern“. Am Schluss erheben sie sich wie Phönixe aus der Asche – „Die Rückkehr“ – aber sie sind gezeichnet.
Trotz des poetischen Untertitels - "Teeming Sea, Tranquil Land" – herrscht hier keineswegs nur Harmonie und Idylle vor. Die Verkörperung von Grausamkeit, Schrecken und Gefahren ist bei Amagatsu ebenso zu verfolgen wenngleich nicht so ausgeprägt wie ursprünglich bei den Gründern Tatsumi Hijikata und Kazuo Ohno im Japan nach dem Zeiten Weltkrieg, wo es um die dunkle Seite des Körpers ging – im „Tanz der Finsternis“ (Ankoku Butoh). In der Folge kam es zu verschiedenen Ausprägungen – bei uns zu sehen waren in den vergangenen Jahren neben den erwähnten Kazuo Ohno und Sankai Juku unter anderem auch Ko Murobushi (dem 2015 verstorbenen Künstler war dieser Auftritt bei ImPulsTanz gewidmet), Carlotta Ikeda und ihre Compagnie Ariadone sowie Min Tanaka und sein Ensemble.
Butoh entstand im monokulturellen Japan, seit den 1980er Jahren tourt Amagatsu mit seiner Compagnie um die Welt – begeistert Menschen in den USA, Südamerika, Australien, Asien und Europa gleichermaßen. Andere japanische Tanzformen erwecken zwar auch hier Interesse, bleiben jedoch meist schwer zugänglich. Noh Theater ist Maskentheater mit sparsamen Gesten und nur angedeuteten Emotionen. Bunraku ist Marionettentheater und Kabuki ist das Theater des (japanischen) Volkes, wo es vor allem um Leidenschaft geht (die ja kulturell unterschiedliche Ausdrucksformen hat).
Butoh spricht offenbar Inhalte im Menschen an, die nicht Teil des bisher gelebten Lebens sind, sondern Teil einer laut Sigmund Freud „archaischen Erbschaft“. C. G. Jung geht darüber hinaus und spricht von einem anderen, einem zweiten psychischen System von kollektivem (nicht persönlichen) Charakter – etwas, das über uns hinaus verweist, jenseits des Individuellen. Das „kollektive Unbewusste“ berührt etwas, das allen Menschen gemeinsam ist, unabhängig von der jeweiligen Kultur. Etwa Märchen und Mythen und ihr Auftreten in der Kunst über diverse Epochen und Kulturen hinweg – bei Jung die empirische Grundlage der „Theorie der Archetypen“. Ushio Amagatsu nennt es weltumspannende Universalität – eine Körpersprache, die in der Tiefe jedes Menschen Gemeinsamkeiten findet. Das, was im Butoh als die dunkle Seite des Körpers bezeichnet wird könnte man mit Jung „das Schatten-Ich“ nennen.
Bei Akemi Takeya etwa funktioniert die Verschränkung des „Tanzes der Dunkelheit“ - sie setzt sich mit Hijikata auseinander - mit dem Aktionismus der westlichen Kultur der 1960er Jahre ganz gut. Ihr Kontext ist ein anderer – als Künstlerin, die in beiden Kulturen zu Hause ist hinterfragt sie in ihrer dreitägigen Soloreihe „Lemonism X Japonism“ unter anderem verschiedene Kunstströmungen (Minimalism, Symbolism, Actionism), Identitäten oder Geschlechterkonstruktionen.
Durch Licht, Wasser, Sand, Erde, Steine vermittelt Ushio Amagatsu Stimmungen, eine Atmosphäre, die eine andere Qualität der Wahrnehmung entstehen lässt, abseits unserer Realität des rasenden Stillstandes. Sollte das jemand gar nicht ertragen, muss er natürlich während der Vorstellung das Smartphone zücken um sich abzulenken, was man auch als Abwehrhaltung oder Abwehrhandlung deuten könnte. Die Stille zwischendurch kann schwer zu ertragen sein oder ebenso der Sound (von Takashi Kako), der unmittelbar wirkt und auch Unbewusstes zum Schwingen bringt. Es handelt sich um eine Suche nach Zeit und Raum. Was bedeutet das heute? Es geht mehr um Ahnungen und Annäherungen als um Gewissheiten.
Vielleicht werden die Besucher auch durch die radikale Ästhetik des Butoh angesprochen, die eine Sprache verwendet, die auf eine Entdeckungsreise ins eigene Innere führt mit seinen Wünschen, Sehnsüchten, Begierden und Grausamkeiten.
Ein Ziel könnte sein sich stetig verwandelnd zu finden. Immer wieder.
Ushio Amagatsu & Compagnie Sankai Juku „MEGURI- Teeming Sea, Tranquil Land“ Vorstellung vom 31. Juli 2016 im Volkstheater; Akemi Takeya „Lemonism x Japonism & Actionism“ Performance vom 1. August 2016 im Leopold Museum im Rahmen von Impulstanz