Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Erst Otfried Preußlers „Krabat“, dann Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ und nun – als zweite abendfüllende Ballettproduktion des Stuttgarter Hauschoreografen Demis Volpi: „Salome“. Ein biblisch-frivoler und wollüstiger Stoff, den der 30-Jährige in unverfroren-souveräner Meisterschaft zu 90 bildstarken Minuten Tanzdramatik umformte. Inhaltlich und vor allem atmosphärisch phänomenal eng an Oscar Wildes literarischer Vorlage aus dem Jahr 1891 entlanggebaut.
Weder Figuren noch Zuschauer der Inszenierung entgehen jener drückenden Schwüle einer fatalen (Blut-)Mondnacht, die die von Fehlbeziehungen aufgeladene Dekadenz am Hof des Herodes ins Unermessliche einer Mordtat aus erotischer Begierde kippen lässt. Vergleichbar der Oper von Richard Strauss, auf deren opulent lautmalerische Ausgestaltung Volpi jedoch zugunsten einer nicht minder suggestiven Mischung zeitgenössischer Kompositionen von John Adams, Vladimir Marynov, Christos Hatzis, Philippe Ohl/Thomas Höfs und des E-Violin-Virtuosen Tracy Silverman (als Gast bei den meisten Aufführungen persönlich dabei) verzichtet. Vielmehr ist es ihm gelungen, dem 1905 in Dresden uraufgeführten Musikdrama ein exzellent durchstrukturiertes, dabei unbequem-aufrührendes Ballett-Äquivalent zur Seite zu stellen.
Stück für Stück wird seit Volpis Bindung als Choreograf ans Stuttgarter Ensemble 2013 immer deutlicher erkennbar, worin (seine kürzeren und zum Teil abstrakteren Werke mal ausgenommen) die ureigenen handwerklichen Stärken des gebürtigen Argentiniers liegen, der sich gerne mit erzählerisch markanten Sujets beschäftigt. Und dabei – in absolutem Kontrast zu seinem Kollegen Marco Goecke – tanzsprachliche Diversität sucht und Direktheit im Ausdruck bzw. klare Aussagen nicht scheut. Visuell unterstützt von seiner Ausstatterin Katharina Schlipf setzt er Geschichten auf derart lineare Art und Weise in theaterwirksame Tanzspiele um, dass das Publikum die Handlung unmittelbar, ohne Vorkenntnisse oder den Griff zum Programmheft, begreift. Dass er im Fall des Herodes zur drastisch-derben Charakterzeichnung seinen Protagonisten Roman Novitzky ausgerechnet in einem Ballett an einen Rollstuhl fesselt, mag nicht jedem gefallen. Ebenso wenig die arg plakative Exposition eines verderbt-schamlosen Partytreibens in Form eines zeit- und raumgreifenden Sodom-und-Gomorrha-Tableaus, das vor (auch balletthistorischen) Klischees nur so strotzt.
Beides aber bedient einen Zweck – genau wie die bis in kleinste Details und alle Nebenpartien durchdachte Personenregie. Im Fokus der von Volpi als Kammerballett konstruierten Aufführung steht schließlich die ausgesprochen facettenreiche Verkörperung der schwer fassbaren Kindfrau Salome. Eine in sexuellem Erwachen, privilegierter Verwöhntheit und unerträglicher Langeweile motivierte Rolle, die sich Elisa Badenes in bewunderns- und beachtenswerter Manier zu eigen gemacht hat – bis hin zu ihrem Solo mit dem abgeschlagenen Kopf des Jochanaan. Aufbauend auf Salomes Tanz vor Herodes, der hier ganz bewusst barfuß und frei von jeglicher Ekstase als zielorientiertes Exercise mit Apfel als sündigem Accessoire und emotional auf Sparflamme ausgeführt wird, steigert sich die nicht unbedingt jungendfreie Passage unmissverständlich subtil. Sie kulminiert in einer orgastischen Selbstbefriedigung und endet mit der die Umwelt vergessenden Hinnahme der eigenen Exekution. Eine gefühlsmäßig schwierige Klimax, die Volpi als gedehnten Augenblick in pure Bewegung fasst. Und deren Ausklingen in Zärtlichkeit bis zur Erlösung durch den Tod die Interpretin ebenso herausfordert wie das Publikum.
Wer also unter dem Titel „Salome“ beim Stuttgarter Ballett einen gefälligen Tanzabend erwartet hatte, wurde enttäuscht. Beharrlich zwingt Demis Volpi den Betrachter, erst ein Duett zwischen Herodias Pagen (Özkan Ayik) und dem jungen Syrer (Martí Fernandez Paixa) zu verfolgen, bevor Salome auf der Bildfläche erscheint und die Leidenschaft des letzteren für sich auszunutzen beginnt. David Moore – seit der Titelpartie in „Krabat“ und weiteren Solopartien nicht nur technisch, sondern auch darstellerisch unglaublich gereift – bespielt derweil als gefangener Prophet vornehmlich die nur sporadisch einsehbare Unterbühne. Was er als Interpret allerdings tatsächlich so drauf hat, darf er in einem originellen, furiosen Duo mit dem frech und quirlig-klammernden Girlie Salome zeigen: einem regelrechten Kampfdialog spiritueller Enthaltsamkeit versus pubertär-stürmische Lust- und Besitzgier.
Allein diese Passage macht den aus Sicht vieler als skandalös empfundenen Abend sehenswert. Sie zählt zu den findigsten Tanzduetten dieser Spielzeit und transportiert in langsam aber stetig zunehmender Verdichtung sowohl die Auseinandersetzung als auch die inneren Beweggründe beider Protagonisten ganz ohne Worte. Diese spart Volpi sich für Herodes auf. Vor seinen Gästen durch Salomes unzüchtiges Treiben schonungslos brüskiert, vermag er nur noch zu schreien: „Tötet dieses Weib!“
Volpis bester Kunstkniff, der die gesamte Uraufführung am 10. Juni 2016 umschließt, ist jedoch die Personifizierung des Mondes in Gestalt der unendlich grazil-biegsamen und omnipräsenten Alicia Amatriain. Als immaterielles Wesen findet sie ihr Pendant in 12 Tänzerinnen, die als glibberig-schwarze Masse aus kriechenden Körpern immer wieder das Verderben und den nahenden Tod heraufbeschwören: Volpis Metapher für Angst und Schrecken, die sich unter den Palastbewohnern breit machen. Darüber hinaus beherrscht Alicia Amatriain das komplette Werk mit Hilfe ihrer starken Aura, ohne je in taktile Interaktion mit den anderen zu treten. Ihr Tanz suggeriert den schimmernden Lichtglanz, der sich in einem gigantischen Adagio nach und nach über die nachtschwarzen Stufen einer riesigen Treppenanlage ergießt. Magisch wie Momente schicksalhafter Verbundenheit, wenn plötzlich Amatriains leitmotivische Krümmungen des Mondes mit Salomes körperlich exaltierten Verzückungen überlappen.
Stuttgarter Ballett: „Salome“ von Demis Volpi, Uraufführung am 10. Juli 2016 im Staatstheater Stuttgart