Ein Mann ist in einem Albtraum der Erinnerungen gefangen. Er erlebt Situationen aus seiner Kindheit, deren Schwere seinen Schritt lähmt. In seinem Kopf sind Bilder einer stark befahrenen Autobahn, während er seinem Schicksal entgegentreibt. Regisseur Andriy Zholdak inszeniert eine bildgewaltige, beklemmende Version von Stanislaw Lems Science-Fiction-Roman aus dem Jahr 1961 bei den Wiener Festwochen.
Kris Kelvin ist Psychologe, er steigt im Raumanzug in eine Kapsel, um eine mehrmonatige Reise zum „fühlenden“ Planeten Solaris anzutreten. Die Kommunikation der dort stationierten Wissenschaftler mit der Erde sei abgerissen, er solle die Verbindung wieder herstellen. Auf der Reise fällt er in einen Traumzustand. Auf Gazevorhängen und Wänden, die sich heben und senken und immer weitere Wände sichtbar machen, tauchen verschwommene Bilder auf.
Welt der Erinnerungen. Monika Pormale hat, gemeinsam mit dem 1962 in der Ukraine geborenen Regisseur, eine Bühne entworfen, die den Protagonisten buchstäblich durch verschiedene Bewusstseinsstadien bis in sein eigenes Innerstes vordringen lässt. Schicht für Schicht, Wand für Wand wird freigelegt, bis Kris sich in der Welt seiner Erinnerungen befindet. Da ist ein Wald mit riesigen Bäumen, zwischen deren Stämmen Sonnenlicht durchblitzt. Er begegnet einem Kind, sich selbst in jungen Jahren, und erlebt seinen Vater, wie er ihn zwingt, einen Vogel zu erschießen, damit er zu einem richtigen Mann werden möge. Der Erwachsene tut, was das Kind verweigert, ein getöteter Vogel kehrt bis zum Ende des Stücks wieder. Kris begegnet auch seiner Jugendliebe Rheya, in einem schmucklosen Klassenzimmer, linkisch vollziehen sie den ersten Liebesakt, bald danach sind sie ein Brautpaar. Es wird gefeiert, doch Kris entzieht sich, die verlassene Rheya endet im Sarg.
Zholdak, ein Regisseur, der in der Vergangenheit immer wieder für Aufreger und „Zumutungen“ gut war – 2004 bei den Wiener Festwochen etwa mit einer Eierschlacht – reizt diesmal die Akustik aus. Jedes Knarren des Bodens, jede Bewegung wird zu einem Dröhnen, Türen knallen, schreiend singen Rheya und Kris in ein Mikrophon, als ihre Beziehung in die Brüche geht (Musik und Sound Vladimir Klykov). Das feinnervige Kostüm der Psyche des Protagonisten findet so seine Entsprechung - einem großen Teil des Publikums aber raubt es die Nerven. Schon vor der Pause verlassen Zuschauer den Saal, nach der Pause kehren viele nicht wieder.
Gott, wo bist Du? Die Inszenierung umkreist religiöse Symbole, ein Kreuz, Heiligenbilder, Schuld und ödipale Verstrickungen und kommt dabei fast ohne gesprochenen Text aus. Gegen Ende vermittelt der Regisseur eine ihm wohl zentrale Botschaft: Das Wesentliche sei es, mit dem Teufel zu leben und nicht mit ihm zu kämpfen, ist auf der Bühne zu lesen. Selbst für den größten Sünder bestünde Hoffnung. Ein riesiges Jesusbild mit Wundmalen ist zu sehen und Kris, gespielt von Dejan Lilic, schreit: „Gott, wo bist Du?“.
Die Inszenierung erinnert ein wenig an Motive in Arbeiten von Romeo Castellucci, der allerdings meist mehr Fragen aufwirft, als er beantworten will. Zholdaks „Solaris“ hingegen will Fragen restlos beantworten, das ist vielleicht die größte Schwäche des phasenweise starken, phasenweise allzu bemühten und insgesamt zu lang geratenen Abends.
Wiener Festwochen: Stanislaw Lem „Solaris“, Regie: Andriy Zholdak, Halle E im Museumsquartier