John Neumeiers Art zu feiern, ist überzeugend: Für das 40-jährige Jubiläum seines Hamburg Ballett fasste er 2013 drei seiner Stücke auf Grundlage von Shakespeare-Stücken zu einem neuen Ganzen zusammen. Damit eröffnet er eine umfassendere Sicht auf sein choreografisches Talent als das ein einzelnes Stück vermag. In „Shakespeare Dances“ verbindet der Ballettchef souverän Komödiantisches und Tragisches zu einer Hymne an die Menschlichkeit und macht gleichzeitig die Kinetik der Musik sichtbar.
„Wie es euch gefällt“, „Hamlet“ und „Vivaldi oder Was ihr wollt“ sind ursprünglich jeweils abendfüllende Ballette. Auch in der verkürzten Version sind die Handlungsstränge klar. Die Figur des Jaques (Carsten Jung) führt als Conferencier mit einem Text durch den Abend, der Shakespeares Zitat zum Thema hat: „Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler, sie treten auf und gehen wieder ab.“
Das Bestechende an Neumeiers Arbeit ist, dass sie sowohl die literarische Vorlage als auch die musikalische Ebene umsetzt. Die beiden Parallelwelten ergeben symbiotisch eine neue, getanzte Form der Geschichte. Mozart ist der Komponist des ersten Teils „Wie es euch gefällt“ (1985 uraufgeführt), das in heiterer Slapstick-Manier die Komödie der Wirrungen in Szene setzt. Großartig der choreografische Reichtum, der sich in dem einer Symphonie ähnlichen Aufbau des Stücks in fünf Sätzen offenbart: in köstlichen Gruppentänzen wie in der erdverbundenen, stampfenden „Schäferidylle“ oder in den skurril-clownesken Hebefiguren in schier unendlich vielen Variationen. Ein stetiger Strom von Figuren in den unterschiedlichsten Kostümierungen, die in dieser Zeitraffervariante nicht immer klar zuordenbar sind, haben bis zum Happy End zwischen Rosalind (Silvia Azzoni) und Orlando (Alexandre Riabko), ihren Auftritt: Edelleute und Bauern, Haremsdamen, Indianer, Piraten, und rotnasige Clowns. Mit der unbeschwerten Opulenz, die Neumeier hier einsetzt, erweist er wohl auch dem Shakespearschen Theater als populäre Unterhaltung seine Referenz.
Nach einer kurzen Überleitung durch Jaques, setzt gleich das zweite Ballett ein: Der „Hamlet“-Stoff wurde von Neumeier mehrmals bearbeitet und hatte in der letzten Fassung 1997 seine Uraufführung. In der ersten Szene nimmt Hamlet (Edvin Revazov) von Ophelia (Anna Laudere) Abschied. Die lyrische Musik von Michael Tippet, die hier noch sehr konventionell klingt, schließt dabei organisch an die vorangegangenen Mozart-Kompositionen an. Mit dem zarten, berührenden Pas de deux, in dem sich die beiden ihrer Liebe zueinander bewusst werden, wird der Zuschauer in die erste Pause des beinahe vier Stunden langen Abends entlassen.
Der zweite Teil ist ganz dem Drama des Dänenprinzen gewidmet, der nach dem Tod des Vaters nach Hause zurückkehrt. Die Mutter Geruth (Leslie Heylmann) bereitet sich auf die Hochzeit mit ihrem Schwager vor, während Hamlet der Geist seines Vaters erscheint und ihn beauftragt, den Mord durch den Bruder an ihm zu rächen. Der innere Konflikt Hamlets wird in eine Fantasiewelt verlagert, in der drei Gaukler stellvertretend für ihn agieren. Die drei roten Nasen wirken in der düster-bedrückenden Stimmung wie der personifizierte Hohn. Ein besonderes Highlight sind die Kostüme von Klaus Hellenstein (der auch die Ausstattung von „Wie es euch gefällt“ besorgte), etwa wenn sich die Klostertracht von Ophelia und ihren Mitschwestern mit einer Handbewegung in fröhlich bunte Blumenkleider der Hofdamen verwandeln.
Mit „Vivaldi oder Was ihr wollt“ (Uraufführung 1996) entfacht Neumeier noch einmal ein wahres Feuerwerk von Tänzen. Während sich die Geschichte der verfehlten Liebe zwischen den vier Hauptcharakteren, den Zwillingen Viola (Carolina Agüero) und Sebastian (Konstantin Tselikov), dem liebeskranke Orsino (Dario Franconi) und der trauernde Olivia (Hélène Bouchet) entfaltet, erstürmt das Corps immer wieder die Bühne. Highlights sind ein Männerballett, das den Sturm verkörpert oder das Rote-Nasen-Ballett am Ende. Wenn sich die Zwillinge, die bei dem Seesturm Schiffbruch erlitten und getrennt wurden, schließlich wiederfinden, dann ist das Glückseligkeit pur.
Obwohl John Neumeiers Choreografien von vielen Compagnien getanzt werden (darunter auch vom Wiener Staatsballett), so kommt die Vielschichtigkeit seiner Arbeit mit seiner eigenen Truppe, dem Hamburg Ballett, (mit dem die drei Ballette auch kreiert wurden), am Besten zur Geltung. Die Solisten des eingespielten Ensembles sind nicht nur ausgezeichnete Tänzer, sondern auch wunderbare Schauspieler, die ihren Rollen Seele verleihen. Neumeiers Tanzsprache mag konventionell, dicht am Kanon des klassisch akademischen Tanzes bleiben. Doch diesen setzt er mit tiefem Verständnis ein. Der Spitzenschuh ist bei ihm niemals ein Zubehör der Virtuosität, sondern entspricht der Bewegungslogik einer Rolle, indem er etwa den Charakter verstärkt, oder ihre Bedeutung vergrößert, wenn die Frauengestalt sur pointe quasi über sich hinauswächst.
Die Ballette von John Neumeier sind aber auch Studien über seine choreografische Quelle und entfalten sich daher auf mehreren Ebenen. In den drei gezeigten Werken auf der Basis von Shakespeare-Dramen wird etwa eine Handlungsebene jeweils von der Figur des Clowns repräsentiert. Die Spaßmacher mit den roten Nasen wirken heilend, erheiternd oder stehen wie in „Hamlet“ für eine bedrohliche Fantasiewelt.
Und so appelliert Neumeier auch beim Publikum an unterschiedliche Rezeptionsweisen, ist unterhaltend, macht nachdenklich oder regt zu Diskussionen an. In jedem Fall wirft er auf bekannte Themen immer wieder einen Blick aus einer neuen Perspektive.
Hamburg Ballett: "Shakespeare Dances" am 9. Mai im Theater an der Wien. Weitere Vorstellungen 10. und 11. Mai