Manchmal verwundert es, wie lange es dauert bis junge, international erfolgreiche Choreografen den Weg hierher finden. Zum Beispiel Sharon Fridman, der gestern seine Österreich-Premiere bei den Tanztagen Linz hatte und mit einer komplexen und konsequenten Bewegungsrecherche das Publikum fesselte und begeisterte – trotz einiger Schwächen bei der Inszenierung seines aufregenden, auf Contact basierenden Tanzidioms.
Sie rennen im Dunkeln, man hört nur das Stöhnen und Ächzen, bis sie donnernd auf den Boden krachen. Langsam werden die drei Tänzerinnen und drei Tänzer im Scheinwerferlicht sichtbar, wie sie sich schemenhaft zu einem Haufen formieren. Einzelne werden versuchen, sich zu erheben. Tranceartig taumeln sie, immer auf der Suche nach einem Anderen, der sie vor dem Fallen bewahrt. Dieses Sich-Fallenlassen und Aufgefangen-Werden wird zu einer rhythmischen Welle. Ohne die Gruppe ist der Einzelne verloren. Dann wird eine Tänzerin von Einem zum Anderen geschmissen oder sie schmeißt sich selbst unter lautem Jauchzen auf ihre Mittänzer. Es ist ein ständiges Verhandeln von Eigenständigkeit und kollektiver Gebundenheit, das hier stattfindet - zwischen spielerischem Miteinander und Endzeitstimmung. Ja, in dieser Choreografie zum eindringlichen Sound von Luis Miguel Cobo geht es ums Überleben, und das wird physisch erfahrbar. Die brillanten Tänzer gehen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, rennen am Ende noch einmal wild los, um erneut erschöpft zusammenzubrechen. Eine 50-minütige Tour de force, auch für das Publikum. Fridman stellt seine Bewegungsforschung ins Zentrum und setzt auf der theatralischen Ebene nur einige wenige Akzente – vorwiegend durch das Lichtdesign von Sergio Garcia Dominguez – ein. Die Kostüme in Grau, der Hintergrund in Schwarz – da hätte man die skulpturalen Effekte der Chorografie durchaus optisch noch etwas aufpeppen können. (Mancherorts findet die Aufführung mit zusätzlichen lokalen Tänzern statt – und ist dann wohl auch bunter, siehe Foto.)
Dass der aus Israel stammende Choreograf, der seit 2006 in Spanien lebt und arbeitet mit seinem Bewegungsexperimenten einen konsequenten Weg geht, wurde mit dem Duo im zweiten Teil des Abends ersichtlich. Auch hier beziehen die Performer (Sharon Fridman selbst und Arthur Bernard-Bazin) den Impuls aus dem Kontakt mit dem Anderen. Sie setzen das riskante Spiel am Rande der Balance fort. Der Partner muss vom anderen immer wieder aufgefangen und aufgerichtet werden. Fast willenlos wie unter Drogeneinfluss lässt sich der Eine vom Anderen manipulieren, nur gemeinsam finden sie zu einem Zustand des Gleichgewichts. In seiner Einfachheit und Kompromisslosigkeit ist „Hasta dónde“ ein choreografisches Juwel des Gegenwartstanzes, das mit einer Reihe von Preisen, darunter dem Burgos-New York International Choreography Contest 2011 und dem Iberoamerican Choreography Award Alicia Alonso CIC´12 ausgezeichnet wurde. Das Talent von Sharon Fridman erkannte Wayne McGregor bereits 2008 als er ihn zu „Dance Lines“ ins Royal Opera House Covent Garden einlud, oder das Festival quartier d’été, das ihn 2012 mit einer Choreografie beauftragte sowie renommierte Häuser wie Mercat de les Flors in Barcelona und das Theater im Pfalzbau Ludwigshafen, die das vorliegende Programm koproduziert haben. Schön, dass er nun auch hierzulande angekommen ist.
Sharon Fridman Company: „Free Fall / Hasta dónde?“ am 27. April im Posthof Linz im Rahmen der Tanztage.
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