Knisternder Doppelabend. Elektroakustische Detonationen. In puschender Sekundenfrequenz ploppen kurzzeitig Lichtkreise am Boden auf: Fenster in eine schrill-schräge Welt, über die sich eine aufreizend in ihrer Körperspannung überdehnte Frau (Katharina Christl, gefolgt von neun weiteren Tänzern) ins Dunkel der ausverkauften Muffathalle beamt. „Metric Dozen“, Richard Siegals 2014 für das Ballett National de Marseille entwickelte Powerchoreografie entzündet sich krachend, wie von einem defekten Feuerzeug ausgelöst.
Das Bayerische Staatsballett übernahm das affektiert-exaltierte Stück im vergangenen Jahr, als es dem amerikanischen Ex-Forsythe-Tänzer und Initiator der in Berlin und Paris ansässigen interdisziplinären Künstlerplattform The Bakery (zu deutsch: Bäckerei) einen Porträt-Abend widmete. Neben Christl und Diego Tortelli, Kévin Quinaou sowie dem gigantisch alle überragenden Corey Scott-Gilbert als Gästen staksten und hechteten unter anderem Katharina Markowskaja und Jonah Cook zum lautstarken Rattern und Quietschen des Soundkomponisten Lorenzo Bianchi Hoesch mit durchgestreckten Beinen, fetzig schwingenden Hüften, zackig-weichen Moves und die Luft durchschneidenden Armen übers Plateau. Groupies aus Coolness, die individuell ausscheren oder sich vogelschwarmartig zu dynamischen Formationen finden, deren Muster keiner Logik zu folgen scheinen.
Neue choreografische Rezepte auf performativem Feld und der Suche nach zwischenmenschlichen Unterschieden lotete Siegal immer schon gerne mit verschiedensten Partnern aus. Sechs Staatsballett-Tänzer kooperierten bei seiner nächsten Kreation: dem von Festivalleiter Johan Simons initiierten ersten Teil einer Dante-Trilogie. „Model“ kam bei der Ruhrtriennale 2015 in Essen zur Uraufführung. „Metric Dozen“ mutierte dort zum sündig aufgeladenen Vorspiel extrovertierter Eitelkeiten.
Nun war der Doppelpack im Rahmen der Ballettfestwochen in München zu sehen. Hier, von wo aus Siegal mit städtischer Optionsförderung bis 2018 und damit verbundenen jährlich je 90.000 Euro fortan unter dem Label einer eigenen Kompanie die Szene aufmischen, seine künstlerischen Grenzverrückungen weitertreiben und neue Partnerschaften im Crossover von Musik, Installation und Performance knüpfen soll. Zu verdanken ist das der trotzig-entschlossenen Netzwerkerriege Bettina Wagner-Bergelt (Staatsballett), Nina Hümpel (DANCE) und Dietmar Lupfer (Muffatwerk), die das Multitalent unbedingt dauerhaft in München verankern will. Signifikanter Name der neuen Ensemblegemeinschaft: „Richard Siegal / Ballet of Difference“. Seinen Platz in der Zukunft (natürlich hofft man auf Verstetigung) muss das Team sich projektweise erobern. Ab Spielzeitende ohne Übernahmeverträge vom Staatsballett mit dabei: Léonard Engel, Katharina Markowskaja und Zuzana Zahradníková.
Was man vor diesem Hintergrund bei „Metric Dozen – Model“ allerdings vermisste, war ein markanter Unterschied in der Machart beider Werke. Das Überziehen eines anderes Gewands reicht nicht aus, um den Charakter einer Person zu verändern! Ein Abend der Einheit also. Sich bewegungstechnisch in einigen Überlappungen erschöpfend. Erst schwarz, dann weiß – die Kostüme (Alexandra Bertaut) zerschnitten wie Rippen. Anfangs eckiger, in Teil 2 die Gesamtbau-Struktur eher runder.
Den neuen 40-Minüter zeichnet höllisches LED-Flackern aus. Unzählige Lämpchen, montiert in kleine, schnell verrückbare Quadrate sowie größere Formate am Ende der Tanzfläche, kitzeln die Augen. Das Wort „Mercy“ – ein stilles Lichtgewinsel um Gnade – leuchtet auf. Dazu fallen, typisch Siegal, computergenerierte Geräuschcluster (Lorenzo Bianchi Hoesch) akustisch über die Zuschauer her. Später schleudert die zierliche Katharina Christ mit verzerrtem Körper dem Publikum schreiend ihre Bitte um Erbarmen entgegen. Nutzt aber nichts. In einem sonor mit Gewehrsalven untermalten Tableau traktieren die Tänzerinnen vom Klangstakkato getrieben mit ihren Spitzenschuhen den Boden. Kriegsambiente und im Gegenlicht ein Body, der wie von Schüssen getroffen niedersinkt. Ein Baby, ab und an im Bild, schläft bei all dem seelenruhig.
Jean-Paul Sartes „Geschlossene Gesellschaft“ und mehr noch das Inferno aus Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“ standen Siegal inhaltlich Pate. Seine Interpreten pirouettieren sich in die Zirkel einer Hölle aus Angst und Bedrohung, in der Schritte nach Momenten der Kontrolle plötzlich in alle Richtungen ausfasern. „Easy“ und „nice“ kommentiert manchmal eine Stimme. Text hämmert uns ein, wohin die Guten bzw. Schlechten kommen. Das ginge packender! Den Bogen gespannt halten die Tänzer. Angeführt von Zuzana Zahradníková, mit der das Stück solistisch anhebt und ausklingt.
Richard Siegals „Metric Dozen – Model“ am 13. April 2016 im Rahmen der Münchner BallettFestwochen in der Muffathalle