Mit der Produktion „… Am Abend der Avantgarde“ beschreitet das SeraopionsEnsemble neue Wege, indem es das Hauptaugenmerk auf einen lyrischen Text legt. Dabei handelt es sich um das Stück „Enuma elisch“ der 1966 verstorbenen russischen Dichterin Anna Achmatowa, das im Odeon erstmals zur Aufführung gebracht wurde. Die Serapionten verpackten das zwischen Prosa, Vers und Dialogen, zwischen (Alb-)Traum und sowjetischer Realität hin- und herpendelnde Spätwerk der Dichterin in einen poetischen Bilderreigen.
Achmatowa thematisiert in ihrem Werk Autobiografisches in verschleierter Form, die Unterdrückung der Kunst in der Stalin-Ära und den Versuch der Dichterin ihrer eigenen Stimme zu folgen. Ihre Leidensgeschichte klingt in Dialogen mit ihren auf drei Frauen verteilten Alter Egos (eine von ihnen spricht russisch) und (fiktiven) Liebhabern an, ohne jemals konkret benannt zu werden.
Dabei war das Leben der 1889 Geborenen geprägt von traumatischen Erlebnissen. So starben etwa zwei ihrer Ehemänner, die Schriftsteller Nikolai Gumiljow und Nikolai Punin in Folge politischer Verfolgung, wurde ihr einziger Sohn, der Geschichtsphilosoph Lew Gumiljow mehrmals inhaftiert und für 15 Jahre in ein Arbeitslager verbannt. Sie selbst wurde aufgrund einer staatlichen Hetzkampagne aus dem Sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen.
Ihre Lyrik eröffnet ein Seelentableau voller Geheimnisse, Schwermut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Diese Grundstimmung wird durch die musikalische Collage und das szenisch Bildertheater des SerapionsEnsembles verstärkt. Erwin Piplits und sein Team entwerfen eine Szenefolge des Mysteriösen: einen Maskenball, Szenen auf einer riesigen Treppe, im Mondlicht, eine Zugreise. Realistischer gestaltet sich das Tribunal der Stalin-Ära, das der Dichterin Schreibverbot auferlegt und sie in den Tod treibt. (Formal erinnert diese Szene übrigens an Kurt Jooss’ Balett „Der grüne Tisch“.) Lediglich zwei Totengräber (einer davon Erwin Piplits) durchbrechen die getragene Stimmung mit wienerischen Zoten.
Der Bilderrhythmus wird vom Text in der Übersetzung von Alexander Nitzberg bestimmt und verlangsamt die Szenenfolge des über zwei Stunden dauernden Stückes. Dass dieser Text den Odeon-Theaterleiter Erwin Piplits nicht mehr losgelasssen hat, ist verständlich, stöbert doch auch er mit seiner fantastischen Theatersprache seit Jahrzehnten die Welten zwischen Traum und Wirklichkeit auf. Auch diesmal setzten die Darsteller des SerapionsEnsembles diese Zwischentöne mit großer Integrität um. Dennoch: der enigmatischen Wortlastigkeit zu folgen, war eine Herausforderung, und in dieser Länge konnten auch die großartigen Bilder meine Aufmerksamkeit nicht durchwegs halten.
SerapionsEnsemble: "… am Abend der Avantgarde", Uraufführung am 8. April 2016 im Odeon Wien, weitere Vorstellungen bis 7. Mai.