Am 29. Januar 2016 feierte im Stuttgarter Opernhaus der dreiteilige Ensemble-Abend „Forsythe/Goecke/Scholz“ umjubelte Premiere. Auf dem Programm standen eine Uraufführung des Hauschoreografen Marco Goecke („Lucid Dream“) sowie die Kompanie-Erstaufführung von William Forsythes „the second detail“ und eine blitzsaubere Wiederaufnahme von Uwe Scholz‘ fantastischer „Siebter Sinfonie“. Ein Abend, drei Welten.
Wechselhaft die Stimmungen, die sich in Stuttgarts neuem Dreiteiler widerspiegeln – bei William Forsythe in septisch-trocken-gedämpften Grautönen, bei Marco Goecke in vollmondig-schillernder Nachtschwärze (Licht: Udo Haberland) und zuletzt bei Uwe Scholz in einer Lichtbalance aus wolkenverschatteter Helle und der flirrenden Luzidität eines klaren Sonnentags vor der Farbstreifen-Schlucht „Beta Kappa“ des Malers Morris Louis. Was aber die Premiere am 29. Januar 2016 so beglückend macht, ist die nonchalante Meisterschaft, mit der die Stuttgarter Tänzerinnen und Tänzer wirklich alle (Ra)Finessen dieser total verschiedenen Handschriften-Kosmen über die Rampe bringen: ästhetisch perfekt, musikalisch präzise, körperlich schlagfertig, tänzerisch einfach überwältigend!
Einzelnen Akteuren gelingt es zudem, das Publikum durch persönliche Fulminanz von der beständigen Konzentration auf das Gesamtgeschehen abzubringen. Einer davon ist Halbsolist Louis Stiens, der in jedem Teil kraftvoll und bemerkenswert ausdrucksstark aufscheint. Wo (wie bei Forsythe und Goecke) gefordert, zaubert er – quasi aus dem Nichts – technisch Ausgefallenes derart drastisch auf die Bühne, dass der Blick an seinen Bewegungen haften bleibt. Den Drive und die Note für Note in den Raum hineinmodellierten fast puren klassischen Moves von Scholz bringt er leichtfüßig punktgenau rüber. Zuvor (in der Mitte des durchweg gruppendynamischen Tanzkunst-Triptychons) von Goeckes Psychogramm „Lucid Dream“ zu Mahlers Adagio aus dessen unvollendeter 10. Sinfonie in völlig konträrer Weise herausgefordert, trägt er augenfällig dazu bei, maskuline Abgründe einer insgesamt auf zehn Männer verteilten Wesenhaftigkeit sichtbar zu machen. Aus dem tiefsten Inneren nach Außen gekippt. Oder in den Zustand eines Wachkomas versetzt. Das Bewusstsein pulsiert über den Klang der Instrumente hinweg heftig weiter.
Choreografisch beeindruckend stark: mit viel individueller Verve in urplötzlich über das Orchester hinausgepustete Ausatmer, gepresste Rufe, lautes Schnüffeln, irrlichternd fixe Schrittmuster und die nur Goecke eigene, in Details regelrecht explodierende Körpersprache gefasst. Dem von Pina Bausch geprägten Wuppertaler gelingt, was anderen verwehrt bleibt: Zum einen sich in der Wahl seiner Mittel ständig zu wiederholen. Neben dem spezifischen, häufig flattrigen Gestenvokabular zählen dazu: Ambiente (rätselhaft), Stimmung (düster), Outfit (nackter Oberkörper, schwarze Hose) und die weitgehende Absenz von Hebungen. Auch das Duo von Constantine Allen mit Agnes Su, der einzigen Frau im neuen Stück, beschränkt sich auf Blick- und Handkontakt sowie einen impulsiven Körperdialog. Zum anderen erreicht er dank seiner minimalistischen Zerleg-Methode, den Protagonisten an absolut unvermuteten Stellen ihrer durchtrainierten Bodies Tanzbewegungen abzuverlangen. Und diese von Mal zu Mal tatsächlich neu einzusetzen. Goeckes 12. Kreation für seine Stuttgarter Kollegen entführt in fiebrige Alltagshektik, gelassene Quirligkeit und Augenblicke von kraftlosem Überdruss. Sie überrascht mit ruhigen Legato-Momenten und blitzschnellem Wechsel des Hintergrundprospekts, was den Tänzern weitere Optionen zum Hinauspreschen auf die Tanzfläche eröffnet. Geisterhaft genial, auch weil Goecke mitsamt der Poesie klar erkennbare Typen zeichnet.
Dabei geht es diesmal gar nicht darum, konkret etwas zu erzählen. Sowohl in Forsythes „the second detail“ (Musik: computergenerierter Sound, metallisch-verjazzt von Thom Willems) als auch in Scholz’ „Siebter Sinfonie“ zu Beethovens gleichnamiger Komposition sind Körper vornehmlich agile Ingredienzen. Beide Choreografen verbindet ihr künstlerischer Start beim Stuttgarter Ballett. Zeitgleich kamen sie 1973, Crankos Todesjahr, in die Stadt – der Amerikaner für ein Engagement in der Truppe, der Deutsche an die John Cranko Schule. Beide arbeiten hier später wie Marco Goecke seit 2005 als Hauschoreografen. Ihre zwei waghalsig temporeichen, nun neu aufpolierten Stücke wurden erstmals vor 25 Jahren aufgeführt.
Die unter Laboratmosphäre subtil chaotisch mit den herkömmlichen Strukturen des Balletts brechende Arbeit von Forsythe hatte Ballettchef Reid Anderson damals noch für das National Ballet of Canada in Toronto bestellt. Ihr Erkennungszeichen: hinten eine Reihe Hocker vor hochgezogener Wand, vorne mittig eine Tafel, auf der das Wort „THE“ prangt. Dazwischen lässt Forsythe 14 Interpreten zu einem Uhrwerk mutieren, das vornehmlich parallel ablaufende Gruppenaktionen antreiben. Immer wieder werden Übungen wie Themen durchexerziert und neu zu Formationen angesetzt. Doch die ballettartige Ordnung ist einem ständigen Kommen und Gehen, Zerfallen und Zerfasern ausgesetzt. In solistischen Sequenzen katapultieren Tänzer sich schnittig in die Luft, schwofen mit scharflinigen Akzenten oder knicken auf Spitze die Beine zum X. Ein klarer Abgesang auf die im Ballett favorisierte gerade Achse. Ekstatisch wilden Freestyle bis zur Erschöpfung wagt allerdings nur Agnes Su, die am Ende barfuß, im weiß drapierten Kleid einer Ausdruckstänzerin zum emotionslos-stupenden Powervolk stößt. Energetisch, dieser Appetizer, den die Stuttgarter bei der Erstaufführung weniger unterkühlt und radikal roboterhaft tanzen als andere Kompanien. An ihrer Coolness und Lässigkeit haften Spuren menschlicher Beseeltheit.
Scholz, schon mit 26 Jahren blutjunger Ballettchef in Zürich, hatte 1991 gerade nach Leipzig gewechselt und kehrte zur Erarbeitung seiner „Siebten Sinfonie“, die in vier rhythmischen Sätzen die Lust am Leben und Freude an der Bild gewordenen Musikpartitur betont, an den Ort seiner Anfänge zurück. Zurecht meint Reid Anderson, dass so eines von Scholz’ besten Balletten entstand. Für das Gros des 22-köpfigen Corps bedeutet die Wiederaufnahme ein Rollendebüt. Den Rücken zum Publikum beginnen sie das Stück in ein Dreieck aus Licht platziert. Dann verfallen sie noch vor Einsatz der Musik in stilvolle Euphorie. Die Männer nehmen ihre Partnerinnen hoch und lassen sie im Schwung einer brandenden Welle gen Zentrum fliegen. Jeder Gedanke, das Stück könnte vielleicht Staub angesetzt haben, ist schlagartig weggewischt. Sehen und Hören wird ultimatives Vergnügen, durch das in großartiger Frische und vollendeter Harmonie Jason Reilly (einer der Bravourmänner in „the second detail“) und die unvergleichliche Alicia Amatriain als Hauptpaar führen. Wie die spanische Erste Solistin jeden Takt der Choreografie auslebt, vor Hochgefühl für jeden Schritt, jede Hebung oder für turboschnelle Pirouettenpassagen schier zergeht, reißt einfach mit. Der „Entzug“ setzt sein, sobald sich die 3x4 Paare zum Schlussakkord verteilen und die Ballerinen zur letzten Arabesque anheben. Das will, das MUSS man mehr als bloß einmal sehen. Und dies gilt für alle drei Teile des phänomenalen Programms „Forsythe/Goecke/Scholz“.
Stuttgart Ballett „Forsythe/Goecke/Scholz“, Premiere am 29. Januar 2016 im Stuttgarter Opernhaus