Zweimal Jugendstil in Hamburg. Nach seiner „Twenty Looks“-Reihe, in der er Begegnungen zwischen Vertretern des frühen modernen Tanzes mit der Voguing-Szene im New York der 60er Jahre imaginierte, gastierte der New Yorker Choreograph Trajal Harrell unlängst erneut in der Hamburger Kampnagelfabrik. In Kooperation mit einer Jugendstilausstellung des Museums für Kunst und Gewerbe widmete er sich dem Tanz der Jahrhundertwende.
Trajal Harrells Inszenierung nimmt Bezug auf die um 1900 beliebte Kunst des Varietés. In einem langen Reigen treten in „Caen Amour“ zwei Männer (Thibault Lac und Ondrej Vidlar) und eine Frau (Perle Palombe) aus der provisorisch anmutenden Kulisse, um das Publikum mit einem Potpourri aus wildem CanCan, smartem Schleiertanz und keckem Countrydance zu becircen. Ein Showlaufen, eine Nummernrevue. Da ist von allem etwas dabei, immer nur als ferne Anleihe, nie als direktes Zitat. Japanisches Butohtheater findet man wieder, aber auch die weichen, verführerischen Armbewegungen einer Isadora Duncan, den spirituellen Gestus einer Ruth St. Denis und, ganz zentral, das Spiel mit langen Stoffbahnen, so wie es die Tänzerin Loie Fuller gezeigt hat. Ihr in fließende Gewänder eingehüllter Tanz, der zum so genannten neuen Tanz avancierte, bildet den eigentlichen Ausgangspunkt von Harrells Performance.
Doch nicht nur Trajal Harrell, auch zahlreiche Künstler des späten 19. Jahrhunderts haben sich mit Loie Fullers avantgardistischen Bewegungs- und Lichtinszenierungen auseinandergesetzt, darunter Toulouse-Lautrec, Auguste Rodin und Gino Severini. Es gibt Bilder, Skulpturen, Gedichte, Texte und auch Fotos, die vermitteln, wie ihre Aufführungen ungefähr ausgesehen haben. Nur an Filmmaterial mangelt es. Vielleicht, so meinte die Kuratorin Claudia Banz bei der Eröffnung der Ausstellung „Jugendstil. Die große Utopie“ im Museum für Kunst und Gewerbe, könne man ja doch noch weitere Quellen auftun. Einstweilen aber muss sich der Besucher mit einem einminütigen Filmausschnitt vom Serpentinentanz begnügen. Was eigentlich aber gar nichts ausmacht, denn die Exponate und der konzeptuelle Rahmen der Ausstellung bieten einen wirklich guten Einblick in die vielschichtigen künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts, in die Prämissen einer Kunst des Umbruchs.
Loie Fuller, die offensichtlich ein echter Technik-Fan war, experimentierte zu Beginn des Medienzeitalters mit allem, was es an entsprechenden Innovationen gab. Ihr Serpentinentanz war eine Art Multimedia-Show aus Licht, Farben, Linien, Formen und Bewegung. Typisch für Fullers Inszenierungen war dabei, dass die Stoffbahnen ihres Kostüms so um die Tänzerin herumwirbelten, dass sie zu einer weichen, ondulierenden Hülle für den Körper wurden. Der Körper selbst blieb geradezu unsichtbar. Und hier liegt wohl der entscheidende Kontrast zu Harrells Inszenierung. Bei ihm geht es überwiegend um das Präsentieren des Körpers, bei Loie Fuller um sein Verschwinden. Was Harrell zeigt, ist eine Mischung aus historischer Modenschau, Laufsteg und Tanzlabor. Der Zuschauer dieser zeitgenössischen „Hoochie-Koochie Show“ hat die Möglichkeit, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, das schnelle Umkleiden und die ständigen Kostümwechsel zu verfolgen. Gegen eine kleine Spende gibt es Schnaps, man wird aufgefordert, im Raum herumzugehen und die Sache von zwei Seiten zu betrachten. Und das ist ja eigentlich immer eine gute Idee.
Auch im Museum für Kunst und Gewerbe kann man die Epoche des Jugendstils von zwei oder sogar noch mehr Seiten aus betrachten. Denn mit zentralen Themen wie der Körperkultur, dem Tanz, veränderten Werbestrategien und wissenschaftlichen Innovationen kann die Ausstellung zeigen, dass der Jugendstil weit mehr hervorbrachte als verspieltes Dekor. Er definierte sich vielmehr über Reformansätze, Visionen und Utopien, die eine Erneuerung der Gesellschaft intendierten. Dank eines thematisch weit gefassten Bogens und gut ausgewählten Exponaten, darunter Reformkleider und ein Solarbad für Sonnenhungrige, ist den Kuratoren eine kluge und spannende Ausstellung gelungen.
Trajal Harrell: Caen Amour. Avant-Premiére. Hamburg, Kampnagel 5. bis 7. Februar 2016
Die Ausstellung „Jugendstil. Die große Utopie“ ist bis zum 28.2.2016 im Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen.
Katalog zur Ausstellung: Sabine Schulze, Claudia Banz und Leonie Beiersdorf (Hg) „Jugendstil. Die große Utopie“. Museum für Kunst und Gewerbe, 2015, 208 S., über 200 farbige Abb.