Spleen zu haben, das hat was. Nicht, weil es ein hippes Mode-Label oder gar die neue Droge wäre, sondern vielmehr, weil es ziemlich viele Menschen zwischen ganz jung und ziemlich alt auf die Beine und zu dem bringt, was im engeren und weiteren Sinne mit performativer Kunst zu tun hat: Vor 10 Jahren war dieses internationale Theaterfestival für junges Publikum zum ersten Mal in Graz zu erleben und seither alle zwei Jahre wieder.
Bei spleen*graz haben die vielen, die die über die Stadt verteilten Spielorte stürmen, Gelegenheit, ein „etwas anderes“ Kinder- und Jugendtheater kennenzulernen - drinnen und draußen, präsentiert von internationalen, nationalen und regionalen Gruppen; aber auch Workshops und Dialogveranstaltungen zu besuchen, oder wie in diesem Jahr an einem Symposium teilzunehmen, Poesie zu hören und zu sehen, sein Wissen mit theaterpädagogischen Überlegungen zu erweitern oder aber auch in der Festivalzentrale über Gesehenes zu diskutieren – mit Freunden, mit KünstlerInnen oder (mit diesen) zu tanzen.
Selbst wenn sich (auch bei dieser Veranstaltung) die „Einsparungen“ auf die Quantität des Angebots ausgewirkt haben, konnten unter der künstlerischen Leitung von Hanni Westphal und Manfred Weissensteiner nicht weniger als 40 Vorstellungen von 14 Gruppen aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Belgien, zuzuordnen den Sparten Sprech-, Musik-, Puppen- und Erzähltheater, Slapstick, Tanz und Performance angeboten werden. Im Rahmen der Nachwuchsschiene Spleen*Trieb wurden außerdem 10 spartenübergreifende künstlerische Aktionen von und mit jungen KünstlerInnen im öffentlichen Raum und an ungewöhnlichen Spielorten im Annenviertel entwickelt. Und dass die Qualität insgesamt weiterhin dem ursprünglichen, hohen Anspruch entspricht, Ungewöhnliches, Zeitgemäßes, zum Denken Anregendes abseits des Mainstreams zu zeigen, das war beispielhaft bei sechs besuchten Veranstaltungen zu erleben.
Empfohlen für ein Alter zwischen 7 und 14 Jahren erwies sich als roter Faden eine jeweils durchaus ernste Thematik; eine, die im Grunde alle Altersgruppen betrifft, hier allerdings unterhaltsam-spielerisch – ohne zu verharmlosen – dem angegebenen Alter und unserer Zeit entsprechend präsentiert wurde.
In den beiden aus Belgien kommenden Slapstick und Tanz-Stücken, im Musiktheater „Zwickeltage“ (Fabuleus) und in der Performance „Tramway, Trott und Tiefkühlfisch“ (Nevski Prospekt) wird in einprägsamen choreografischen Bildern der Wiederholung die Absurdität, die einschränkende Macht gedankenlosen Alltagstrotts humorvoll bewusst gemacht. Die hohe Bewegungsqualität unterstützt nicht nur die grundsätzliche Unmittelbarkeit dieser Formen von Körpertheater, sondern macht in ihrer detaillierten Ausformung auch eine Vielzahl an Facetten des Gezeigten sichtbar und je nach Alter (be)greifbar. Fabuleus lassen den Irrwitz des mechanischen Tuns ins poetisch Surreale gleiten, wobei Spaß und Überraschung nie ganz verschwinden. Die vier Herren des Nevski Prospekt wiederum finden – nach etwas ausgereizten Passagen slapstickartigen Repetierens - in ihren individuellen Ausbrüchen aus dem Trott jeweils in der Kunst eine schutzgebende, lebenswürdige Nische - auch sie ohne jeweils den Witz aus dem Auge zu lassen.
Die Schweizer Produktion „Bambi“ vom Vorstadttheater Basel ist in ihrer Interpretation des Originalromans von Felix Salten eine Qualität für sich; nehmen sie doch nicht nur die Kinder in dieser „ewigen Geschichte vom Kreislauf des Lebens“ lückenlos an der Hand , sondern auch Erwachsene jeden Alters: ob durch ihr herzhaftes Spiel mit „allen“ Mitteln des Theaters, durch ihr kunterbuntes Jonglieren mit Kitsch und Ironie, mit Tradiertem und Heutigem, mit überquellenden Emotionen und bissiger Kritik.
Bunt minimalistisch sowie assoziativ die Fantasie ansprechend ist die wunderschöne kleine Geschichte eines Krankenhausaufenthalts in „Gabi hat Glück“ der österreichischen schallundrauch agency. Der Wechsel von Erzählung und Darstellung mit einfachsten Mitteln wird von Gabriele Wappel und Sebastian Radon mit derartig schwebender Leichtigkeit präsentiert, dass nur der ab und zu durchbrechende Schalk und die Lebensfreude vom Abheben abhält. Ja, und ein bisschen holt auch das etwas zu dichte Bemühen um Wissensvermittlung, so geschickt es auch angelegt ist, auf den Boden zurück, aber sei’s drum.
Die Tanzperformance mit Livemusik von Kabinett K aus Belgien überrollt geradezu elementar mit der energiegeladenen Kraft von Menschwerdung: mit der mannigfachen an- und abschwellenden, drängenden Bewegung der suchend agierenden, spielend-kämpfenden, mutig-verzweifelten, einsamen, aggressiven, Schutz und Liebe ersehnenden Kinder, und doch gleichzeitig mit tiefberührender, emotionaler Zartheit. Unter der Leitung der beiden Tänzer-Choreografen Joke Laureyns und Kwint Manshowen (Belgien) entfaltet sich hier eine nahezu ungezähmte Bilderflut im Mit- und Gegeneinander der sieben Kinder und den beiden Erwachsenen. Das assoziative Potential diese sprudelnden Bewegungssequenzen in "Rau" ist weit und offen – kaum jemand kann sich also ausgrenzen, entziehen.
Eine Tatsache, die ganz anders und doch vergleichbar intensiv auch für „Fucking Life“ vom Mezzanin Theater unter der Leitung und Regie von Martina Kolbinger-Reiner gilt, gezeigt im Rahmen von Spleen*Trieb. Vier junge Frauen mit kulturell wie religiös unterschiedlichem Hintergrund versuchen zu verstehen, warum sie, die doch als Menschen alle gleich, in Realität ganz anderes erleben mussten und erleben. So erzählen sie mutig und erschütternd von Vergangenem, sprechen offen über Unverständliches im gegenwärtigen Leben und erfahren dabei hautnah, wie schwierig ein Miteinander sein kann: Große Probleme klug und sensibel wie handfest und direkt heruntergebrochen in bühnengerechten Bildern auf Exemplarisches anhand von vier Menschen – ein starkes Stück.
spleen*graz, 4. bis 8.Februar 2016; Schauspielhaus Graz, Frida & freD, TaO!, Theater am Lend, TTZ-Graz, Orpheum, Haus der Architektur, Bad zur Sonne, CCW Stainach u.a.