Sie setzte die schauspielerischen Konventionen ihrer Zeit außer Kraft. Nicht Effekte oder das rollenübliche Hantieren mit Requisiten oder gar persönlicher Starkult waren Eleonora Duses Ding. Stattdessen fühlte sie sich als moderne Frau an der Wende zum 20. Jahrhundert emotional tief in ihre Bühnencharaktere ein. Eine Vorläuferin des späteren „Method Acting“.
Für einen Tanzabend ist das eine tolle, aber gewiss keine leichte Vorlage. Genau die richtige Herausforderung also für Hamburgs Ballettintendant John Neumeier. Seine „Duse“-Kreation will eine choreografische Annäherung an die illustre Schauspielerin sein, im Kern mehr dem Geheimnis ihrer Ausstrahlung auf der Spur als fest verbürgten biografischen Fakten.
In diesem Sinn kann man den szenischen Ausreißer in Neumeiers „Duse“ verstehen: das tragische Schicksal der amerikanischen Ausdruckstänzerin Isadora Duncan (barfüßig leicht und expressiv von Anna Laudere interpretiert), deren zwei Kinder in der Seine ertranken. Beide Künstlerinnen verband kollegiale Freundschaft.
Beziehungen zu verschiedenen Männerpersönlichkeiten bestimmten das Privatleben „der Göttlichen“, wie die Duse gern genannt wurde. Neumeier orientiert sich daran im Ablauf seiner „Choreografischen Phantasien über Eleonora Duse“ – so der erläuternde Untertitel des neuen Balletts. Intime Pas de deux werden immer wieder mit Situationen verschmolzen, die Duses Auftritte und Partien zum Inhalt haben. Wie Dumas‘ Kameliendame.
Hier kommt die virtuose Rivalin Sarah Bernhardt ins Spiel – grandios bis in den Augenaufschlag dargeboten von Neumeiers zierlicher, wie ein Chamäleon wandelbarer Solistin Silvia Azzoni. Sogar ein – in die Tableaus tänzerisch verhalten hineininszeniertes – Publikum darf der Bernhardt lauter als je ihrer Konkurrentin Bravos zurufen.
Neumeier-Highlights sind Bernhardts/Azzonis Entree, die bewundernde Begegnung mit der jüngeren Kollegin Duse und deren Liebesdesaster mit dem sie ausnützenden Dichter-Beau Gabriele D’Annunzio (fabelhaft perfide als enthusiasmierter Lover-Boy: der Ex-Münchner Solist Karen Azatyan). Wie eine Signatur wirkt Duses kurzer Moment auf der Chaiselongue – ein Eigen-Zitat Neumeiers aus seiner „Kameliendame“-Version.
Dazwischen kommt Carsten Jung zum Zug. Er spielt den wichtigen Part des Dramatikers, Komponisten und Theaterkritikers Arrigo Boito. Neumeier sieht in ihm Duses Mentor. Letztlich scheitert jedoch auch diese choreografisch mit Höhen und Tiefen ausgeschmückte Affäre.
Marc Jubete dagegen, den Neumeier der Duse stellvertretend für das Publikum zur Seite stellt, rückt erst im zweiten Teil – einem skulptural-abstrakt gehaltenen Riesenadagio für das solistische Männerquartett rund um die tragisch-schillernde Hauptfigur – stärker ins Blickfeld. Neumeier hatte dieses (wesentlich heller ausgestaltete) meditative Epilogstück („Fratres“ zu Musik von Arvo Pärt) schon 1986 für die damals knapp 50-jährige Marcia Haydée geschaffen.
Eine ideale Interpretin für das Duse-Projekt fand Neumeier in der berühmten Mailänder Primaballerina Alessandra Ferri. Als reife, einfühlsame Darstellerin verkörpert sie nun in Hamburg eine nach innen gekehrte, nur in seltenen Momenten vor Glück strahlende und erstaunlich jugendlich wirkende Duse. Nahezu ungeschminkt und mit faszinierender Präsenz.
Eigentlich alles perfekte Zutaten … Doch die Uraufführung am 6. Dezember gerät seltsam filmisch-düster. Kammerballettartig konzentriert setzt Neumeier bei Duses einzigem Stummfilm „Cenere“ an. Inmitten der Bühne flackern unscharfe Bilder einer Mutter-Sohn-Beziehung. Zärtliche Momente, die der Choreograf in einer sich aus dem Kinoambiente schälenden Begegnung zwischen der Duse und dem Soldaten Luciano Nicastro (berührend und hinreißend: Alexandr Trusch) weiterspinnt. Traumhaft gut gelöst zu perlenden Klavierklängen von Arvo Pärt: der Wechsel beider in den szenischen Abriss einer „Romeo und Julia“-Aufführung, bei der Realität und innere Vision ineinander verschwimmen, sobald die Duse in Trusch ihren Romeo erblickt. Den Rest des eineinhalbstündigen ersten Teils tragen, bestens musiziert vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter Simon Hewett, Brittens „Variations on a theme of Frank Bridge“.
Ein komplex verdichtetes Lebenskaleidoskop, dem die Zuschauer bei der Premiere zwar teils jubelnd, wenn auch nicht restlos überzeugt zustimmten.
Hamburg Ballett: „Duse – Choreografische Phantasien über Eleonora Duse“ Premiere am 8. Dezember 2015 in der Staatsoper Hamburg. Weitere Vorstellungen: 11., 12. Dezember 2015; 9., 15., 16., 28., 31.Jänner; 15. Juli 2016