Konservativ, doch gleichzeitig mutig möchte man den Versuch von Michael Corder nennen, heute ein Märchen mit den traditionellen Mitteln des Handlungsballetts auf die Bühne zu bringen. Mit „Die Schneekönigin“, 2007 für das English National Ballet kreiert und nun mit dem Wiener Staatsballett einstudiert, hat die Volksoper jedenfalls ein opulentes Ausstattungsballett im Repertoire, mit zauberhaften Momenten, aber auch mit etlichen Durchhängern.
Bei Märchen liegt die Assoziation „Kinder“ nahe. Bei dieser Inszenierung ist es allerdings fraglich, ob dieses Zielpublikum seine Freude an dem Werk haben würde. Da ist zum einen die Länge von über zweieinhalb Stunden; zum anderen die Musik von Prokofjew, bei der eingängige Melodien weitgehend fehlen. (Außer der Ballettmusik „Das Märchen von der steinernen Blume“ hat der musikalische Arrangeur Julian Philips auch andere Werke aus dem Opern- und Konzertrepertoire des Komponisten verwendet.) Der dramatischen und komplexen Musik des russischen Komponisten steht eine harmlose, wenig akzentuierte Choreografie gegenüber. Der klassisch-akademische Bewegungskodex wird für hübsche Tänze, aber nicht für die Individualisierung der Charaktere eingesetzt. Dass dennoch Stimmung aufkommt, ist den Tänzern zuzuschreiben, die sich redlich um eine typgerechte Rolleninterpretation bemühen. Olga Esina ist eine ideale Schneekönigin und versteht es auch ihre Akzente besonders hart und scharf zu setzen. Alice Firenze und Davide Dato bezaubern als Kay und Gerda mit italienischem Charme. Apropos Charme: den versprüht auch Ursula Szameit als sehr vitale Großmutter. Sie – und das gesamte Ensemble des Wiener Staatsballetts – machen den Abend tänzerisch zu einem vollen Erfolg.
An der Märchengeschichte, die in mehreren Varianten bereits in Musicals und Trickfilmen Eingang gefunden hat, hat Corder wenig geändert. Kay und Gerda sind bei ihm zwar keine Kinder mehr, sondern junge Erwachsene. Doch die Verwandlung und Entführung von Kay durch die rachsüchtige Schneekönigin ist erhalten geblieben – ein Spiegelstück lässt sein Herz und sein Auge zu Eis erstarren, aus dem netten Burschen wird ein unangenehmer Bully, der ganz im Bann der Schneekönigin steht. Doch die Liebe und die heißen Tränen seiner Freundin Gerda bringen das Eis zum schmelzen, befreien Kays Körper von den Glassplittern, mit denen er nun den von der Schneekönigin zerschmetterten Spiegel reparieren kann. Damit ist die Macht der Eiskönigin und des ewigen Winters gebrochen. Obwohl Corder einige Figuren der Originalvorlage weggelassen hat, gibt es im Ballett immer noch zu viele davon. Die Rolle der Lappin und des Rentieres hätte man getrost streichen können. Die Polarwölfe und -füchse als Begleiter der Schneekönigin, wirken eher wie niedliche Kätzchen. Bei den Zigeunern mit ihren temperamentvollen Tänzen (allen voran Mihail Sosnovschi und Ketevan Papava) bleibt die dramaturgische Bedeutung unterbelichtet.
Die Ausstattung von Mark Bailey ist vor allem im Reich der Schneekönigin ein echter Hingucker. Mit Videoanimationen und funkelnd-weißen Kostümen kreiert er eine eisige Atmosphäre. Die Kostüme der Dorfbewohner sind in Primärfarben gehalten und die Zigeuner tragen –natürlich – schwarz und rot. Musikalisch ist der erste Akt mit temporeichen Stücken überfrachtet und das Orchester unter der Leitung von Martin Yates kämpfte mit den Prokofjewschen Harmonien. Erst in den Walzermelodien im zweiten Akt kehrte Balance ein.
Wie nachhaltig der Versuch ist, im 21. Jahrhundert an die Märchen-Balletttradition vor zweihundert Jahren anzuknüpfen, ist noch ungeklärt. Beim English National Ballet tanzt man zur Weihnachtszeit jedenfalls wieder den „Nussknacker“. An der Wiener Volksoper wurden in dieser Saison hingegen noch Zusatzvorstellungen eingeschoben.
Wiener Staatsballett: „Die Schneekönigin“, Premiere am 8. Dezember 2015 in der Volksoper. Weitere Vorstellungen: 10., 13., 18., 22. Dezember 2015, 3., 10., 17. Jänner, 21. Februar, 1., 10. , und 13. März 2016